13 antisemitische Vorfälle pro Woche
Gewalt, Anschläge auf Wohnhäuser und Denkmäler, verbrannte Israelfahnen – Antisemitismus hat viele Gesichter. In Westfalen ist die Zahl der antisemitischen Vorfälle im vergangenen Jahr um mehr als 200 Prozent auf 227 Fälle gestiegen.
Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) NRW hat diese Zahlen jetzt vorgelegt. Zum Vergleich: Im Vorjahr registrierte die RIAS in Westfalen 75 Fälle. Landesweit wurden 2023 mehr als 660 Bedrohungen, Gewalttaten, Angriffe, Sachbeschädigungen und verletzendes Verhalten registriert. Das sind durchschnittlich 13 Fälle pro Woche. 2022 waren es noch fünf Fälle pro Woche. Vor allem seit dem terroristischen Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat RIAS NRW im Vergleich zum Vorjahr ein Vielfaches an antisemitischen Vorfällen registriert. Lag die Zahl in den Monaten Januar bis September noch bei durchschnittlich 25,4 pro Monat, stieg sie im Zeitraum Oktober bis Dezember auf 145 pro Monat.
„Der Jahresbericht von RIAS bestätigt, wie alltagsprägend Antisemitismus für Jüdinnen und Juden in Nordrhein-Westfalen ist – der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober hat die Situation noch einmal deutlich verschärft. Neben verbalen Aggressionen, die ein hohes Einschüchterungs- und Bedrohungspotential entfalten, kommt es auch immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen“, sagt Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen.
Angriffe auf Jüdinnen und Juden
Die meisten antisemitischen Vorfälle ereigneten sich im öffentlichen Raum sowie in alltagsprägenden Bereichen, etwa auch in Bildungseinrichtungen, was für Betroffene meist besonders bedrohlich und einschränkend sei, heißt es. „Besondere Sorge bereitet uns die virulenteste Form des Antisemitismus, der israelbezogene Antisemitismus“, sagt Jörg Rensmann, Projektleiter RIAS NRW. Häufig werde in diesem Zusammenhang auch die Shoa, die millionenfache Ermordung von Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialisten, geleugnet oder bagatellisiert.
Auch in Westfalen erfahren Jüdinnen und Juden Gewalt, Bedrohungen und verletzendes Verhalten. So wurde bei einer Gedenkveranstaltung für die Opfer der Novemberpogrome von 1938 in Castrop-Rauxel einem Teilnehmer die Israelfahne von der Schulter gerissen und zerrissen. In einer Regionalbahn von Soest nach Werl grölte eine Gruppe von fünf Männern „Es gibt kein Israel“ und „Pro Palästina“. Woraufhin ein anderer junger Mann sie aufforderte, dies zu unterlassen; es kam zu einem kurzen Streit, dann erhielt der Mann mehrere Faustschläge ins Gesicht, so die RIAS. Als zwei weitere Männer den Angegriffenen schützen wollten, wurden auch sie geschlagen und getreten. Die Tätergruppe flüchtete am Bahnhof Werl in verschiedene Richtungen aus dem Zug. Einen Täter nahm die Polizei später fest, heißt es weiter.
RIAS will Licht ins Dunkel bringen
Im Ruhrgebiet wurde das Wohnhaus einer jüdischen Familie in zwei aufeinanderfolgenden Nächten mit bengalischen Fackeln beworfen und außerdem mit antisemitischen Parolen beschmiert. Es sei kaum vorstellbar, was es für das Sicherheitsgefühl einer jüdischen Familie bedeute, solchen Angriffen im eigenen Haus ausgesetzt zu sein, heißt es im RIAS-Bericht.
Die Auswertung zeigt, dass Antisemitismus, Gewalt und Bedrohung für Jüdinnen und Juden in NRW ein immer wiederkehrendes Phänomen sind. Diese Anfeindungen bleiben jedoch in einem Dunkelfeld verborgen, wenn es keine ausreichende quantitative und qualitative Dokumentation von Antisemitismus gibt, erklärt die RIAS. Sie hat im April 2022 ihre Arbeit als Meldestelle aufgenommen, um Licht in dieses Dunkelfeld zu bringen. Dokumentiert werden von ihr Vorfälle unabhängig vom politisch-weltanschaulichen Hintergrund der Täter und auch solche, die keinen Straftatbestand erfüllen. RIAS weist aber darauf hin, dass es immer noch eine hohe Dunkelziffer gebe.
jüb, wsp