22.12.2021

Adventskalender – Tür 22

„Seit 50 Jahren vom Fach“

Die Fachhochschulen haben 2021 ihr 50-jähriges Jubiläum gefeiert. Forschung und Lehre wirken über den Campus hinaus.

Rund 15.000 Studierende lernen und forschen an der FH Münster. Foto: FH Münster, Marek Michalewicz

Rund 15.000 Studierende lernen und forschen an der FH Münster. Foto: FH Münster, Marek Michalewicz

Vor 50 Jahren wurde die Sendung mit der Maus zum ersten Mal ausgestrahlt, Willy Brandt mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet und Greenpeace gegründet. Ein anderes wichtiges Ereignis wird beim Rückblick auf das Jahr 1971 aber nur selten erwähnt: die Gründung der ersten Fachhochschulen. Am 1. August verabschiedete der NRW-Landtag das Fachhochschulgesetz und machte damit den Weg frei für eine wahre Erfolgsgeschichte. Nach den Wirtschaftswunderjahren wurden gut ausgebildete Fachkräfte benötigt. Die Fachhochschulen, von denen viele aus Ingenieurschulen hervorgegangen sind, sollten praxisnah und schnell ausbilden. Mehr Menschen wurde so eine akademische Bildung ermöglicht, und das auch in Städten und Regionen, die keine traditionellen Hochschulstandorte waren. Bildungsgerechtigkeit und Praxisbezug – diese Themen prägen die 19 öffentlichen und privaten Fachhochschulen in Westfalen nach wie vor, während die Universitäten sich stärker auf die Grundlagenforschung konzentrieren. Als Hochschulen für angewandte Wissenschaften, wie die „FHs“ mittlerweile offiziell heißen, treten sie selbstbewusst und ambitioniert auf.

Die FH Münster verstehe sich als „Aufsteigerhochschule, bringt Prof. Ute von Lojewski diese Haltung auf den Punkt. Die Hochschulpräsidentin berichtet im Interview mit dem WESTFALENSPIEGEL von Studierenden, die mit unterschiedlichen Abschlüssen und beruflichen Erfahrungen an die Hochschule kommen. „Mein Anliegen ist, dass die Ausbildung nicht nur praxisnah abläuft, sondern auch wissenschaftlich fundiert ist und darüber hinaus zur Persönlichkeitsbildung der Studierenden beiträgt, zum Beispiel durch das forschende Lernen im Master, betont von Lojewski. So war die FH Münster 2011 die erste Fachhochschule bundesweit, die mit einer Systemakkreditierung ausgezeichnet wurde. Damit trägt die Hochschule weitgehend allein die Verantwortung für das Qualitätsmanagement ihrer Studiengänge und kommt ohne die Begutachtung externer Agenturen aus.

Prof. Dr. Ute von Lojewski, Präsidentin der FH Münster. Foto: Bröker

Prof. Dr. Ute von Lojewski, Präsidentin der FH Münster. Foto: Bröker

Prof. Hans Effinger lehrt und forscht seit 28 Jahren im Bereich Elektrotechnik und Informatik am Campus Steinfurt der FH Münster. Nach einem Universitätsstudium und der Promotion in Marburg sowie einigen Jahren der Berufstätigkeit in der Luft- und Raumfahrtindustrie fand er seine Berufung an der Hochschule. „Die Lehre macht mir große Freude, gerade weil die Studierenden unterschiedliche Erfahrungen mitbringen. Ich greife immer wieder Themen aus der Industrie auf. So wirken wir an Innovationen mit, beschreibt Effinger. Viele der angehenden Informatiker und Elektroingenieure kommen aus den Städten und Kreisen rund um Steinfurt; dennoch legt der Wissenschaftler Wert darauf, über die Grenzen des Münsterlandes hinaus zu blicken. „Wir vernetzen uns mit Hochschulen aus dem Ausland und haben seit vielen Jahren Austauschprogramme, zum Beispiel mit Kolumbien und den USA. Das ist ein wichtiger Bestandteil des Studiums.

Während Effinger nach mehr als 50 Semestern an der FH Münster bald in den Ruhestand geht, ist die Pflegewissenschaftlerin Prof. Annett Horn erst vor einigen Monaten an die Hochschule gekommen. Nach einer Ausbildung und einigen Jahren Berufstätigkeit in der Krankenpflege hat Horn an der Hochschule Osnabrück Pflegewissenschaft studiert und an der Universität Witten/Herdecke promoviert. In den vergangenen Jahren war sie an den Universitäten Bielefeld und Osnabrück als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Vertretungsprofessorin tätig. Ihre Professur im Fachbereich Gesundheit hat sie nun mit einem großen Vorhaben angetreten. „Ich forsche zum Thema Public Health Nursing. Dabei geht es unter anderem um die Frage, wie Pflege dazu beitragen kann, die Gesundheitskompetenz bei Bürgerinnen und Bürgern so zu stärken, dass Krankheiten möglichst gar nicht erst entstehen, erzählt Horn.

„Wenig Freiraum für Forschung“

Viele ihrer Studierenden haben praktische Erfahrungen im Pflegebereich gesammelt; ihnen möchte die Professorin unter anderem vermitteln, wie selbst gebrechliche Patienten durch Bewegung oder auch die Veränderung von alltäglichen Gewohnheiten aktiviert werden können. „Es macht mir Spaß, mit Studierenden zu arbeiten, die offen für neue Fragestellungen und Erkenntnisse sind, berichtet Horn. Der Forschergeist steht auch für die 49-Jährige im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit. „Im Herzen bin ich Wissenschaftlerin, sagt die gebürtige Dresdnerin. Gerade aus diesem Grund habe sie sich für eine Laufbahn an der FH Münster entschieden, sagt Horn: „Die Forschung hat hier einen besonders hohen Stellenwert.“

Das sei nicht unbedingt selbstverständlich, lautet gerade jetzt, mit Blick auf die Jubiläumsfeierlichkeiten, die Kritik aus der Wissenschaft in Richtung Politik. Denn während die Zahl der Fachhochschulen in den vergangenen Jahren gewachsen ist und deren Bedeutung zugenommen hat, hinkt die Entwicklung der Rahmenbedingungen hinterher. So sind die Professoren in der Regel verpflichtet, 18 Semesterwochenstunden zu unterrichten. „Das lässt nur wenig Freiraum für die Forschung, hat Prof. Annett Horn in ihrer Laufbahn erfahren. Dass es kaum Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter gibt, Promotionen bislang nicht ohne Weiteres möglich sind und auch der Zugang zu Fördertöpfen oft schwierig ist, erschwere die Situation der FH-Wissenschaftler überdies.

 

Trotz oder gerade wegen dieser Hürden haben sich die Hochschulen für angewandte Wissenschaften profiliert, zeigen Beispiele aus Westfalen, darunter auch die Technische Hochschule Ostwestfalen-Lippe, kurz TH OWL mit Sitz in Lemgo. Sie kooperiert in zahlreichen Projekten mit ostwestfälischen Unternehmen, aber auch Forschungseinrichtungen wie dem Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung. „Wir forschen zu Themen, die für die regionale Industrie aktuell sind, zum Beispiel in den Bereichen Big Data und Automatisierung. Damit hat die Hochschule eine wichtige Aufgabe, betont Prof. Stefan Witte, der im Fachgebiet digitale Kommunikationssysteme an der TH OWL forscht und lehrt.

An der TH OWL wird ein neuartiges Ein-Schienen-Fahrzeug entwickelt, das MonoCab. Grafik: TwoWest

An der TH OWL wird ein neuartiges Ein-Schienen-Fahrzeug entwickelt, das MonoCab. Grafik: TwoWest

Im Rahmen des Strukturförderprogramms Regionale 2022 entwickelt er gemeinsam mit Wissenschaftlern anderer Fachrichtungen und Studierenden technische Innovationen. Dazu zählt das Mobilitätsprojekt MonoCab, ein elektrisch betriebenes Ein-Schienen-Fahrzeug. „Das MonoCab soll ein Fahrzeug für den On-Demand-Modus werden, Fahrgäste können es ordern. Es ermöglicht auf eingleisigen Strecken einen Verkehr in beide Richtungen gleichzeitig und könnte auf stillgelegten Strecken eingesetzt werden, die für den konventionellen Bahnverkehr nicht mehr wirtschaftlich zu betreiben sind, beschreibt der Ingenieur das Vorhaben, für das der Landeseisenbahn Lippe e.V. als Ideengeber mit dem Deutschen Mobilitätspreis ausgezeichnet worden ist. Im ländlichen Raum, wo Mobilität oft noch vom Auto abhängt, könnte das MonoCab eine neue Perspektive für den öffentlichen Personennahverkehr bedeuten. Bereits im nächsten Jahr soll das Fahrzeug auf einem Streckenabschnitt im Kreis Lippe präsentiert werden.

Talentscouting an der Westfälischen Hochschule

Ob es um neue Strategien in der Pflege oder um Mobilitätskonzepte geht – zahlreiche Innovationen aus den Fachhochschulen wirken weit über die Campusgrenzen hinaus. So auch das Talentscouting, das an der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen entwickelt wurde. 2011 ging der Talentscout Suat Yilmaz erstmals in Schulen, um junge Menschen auf dem Weg zu einem Studium oder Ausbildungsplatz zu unterstützen. Im Fokus standen dabei Schüler, die talentiert und motiviert sind, aber nicht auf die Hilfe ihrer Familie zählen können. Sei es aus finanziellen Gründen oder weil Erfahrungen im Dschungel der Studienfächer und Fördermöglichkeiten fehlen. „Wir haben uns auf die Lebensbedingungen dieser Jugendlichen eingelassen und ein Angebot zur Ermutigung und Befähigung aufgebaut, das weit über die Studienberatung hinaus geht, erzählt Prof. Bernd Kriegesmann, Präsident der Westfälischen Hochschule.

Aus dieser Initiative hat sich das Zentrum für Talentförderung mit Sitz in Gelsenkirchen-Ückendorf entwickelt. 70 Talentscouts sind heute landesweit an 400 Schulen aktiv und arbeiten mit 17 Hochschulen zusammen. Rund 15.000 Jugendliche wurden bislang beraten und bei den ersten Schritten in ein Studium oder eine Ausbildung begleitet. Dass diese Idee an einer Hochschule für angewandte Wissenschaften entstanden ist, sei kein Zufall, sagt Kriegesmann: „Wir haben hier an der Westfälischen Hochschule eine große Erfahrung mit unterschiedlichen Studierenden und Lebensumständen. Bildungsgerechtigkeit ist Teil unserer DNA.

Annette Kiehl, wsp

Ein Artikel aus dem WESTFALENSPIEGEL 04/2021 und hier.

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