Adventskalender Tür 7
Im LWL-Industriemuseum Glashütte Gernheim zeigen Glasmacher ihr traditionsreiches Handwerk.
Im Ofen herrscht eine Temperatur von 1200 Grad. Tag und Nacht steht darin der Hafen, das tönerne Schmelzgefäß, gefüllt mit etwa 70 Litern flüssigem Glas – eine glühend heiße Masse, die aus einem Gemenge aus 70 Prozent Quarzsand und jeweils 15 Prozent Soda und Kalk besteht. Glasmacher Korbinian Stöckle taucht die Glasmacherpfeife hinein. „Sie ist das wichtigste Werkzeug des Glasmachers, mit dem schon im Jahr 150 v. Chr. gearbeitet wurde“, sagt er.
Gemeinsam mit dem Glasgraveur Heikko Schulze Höing führt Stöckle den Betrieb „Glasturm“. Ihren Arbeitsplatz haben die beiden seit der Eröffnung des LWL-Industriemuseums Glashütte Gernheim im Jahr 1998 in dem markanten kegelförmigen Glashüttenturm. An sechs Tagen in der Woche fertigen sie hier, unterstützt von dem Glasgestalter Rasit Rejwan Toplu, wunderschöne Trinkgläser und Karaffen, Schalen und Vasen, Gartenstelen und Briefbeschwerer.
1826 errichtet, standen in dem Backsteinturm einst bis zu 30 Glasmacher um den heißen Ofen, der mit Steinkohle befeuert wurde. In Gernheim hatte man dafür zunächst Kohle aus der Nähe von Minden benutzt, doch griff deren Schwefelgehalt die Lungen der Glasmacher stark an. Heute sorgt Gas dafür, dass die Temperatur in dem Ofen im Dauerbetrieb konstant bleibt. Neben handwerklichem Geschick und künstlerischer Kreativität, Kraft und Konzentration erfordert die Arbeit der Glasmacher nicht zuletzt auch Geduld.
Zehn Minuten für ein Trinkgefäß
Mehrere Male taucht Korbinian Stöckle das 1,5 Meter lange Metallrohr in die zähflüssige Masse, bläst in die Pfeife, dreht sie dabei und bringt das entstehende Gefäß mit einem Löffel aus Holz in Form. Um ein farbiges Produkt herzustellen, gibt er in einem der vielen Arbeitsschritte ein kleines kobaltblaues Glasstück hinzu. Weitere Schichten Klarglas sorgen dafür, dass das vollendete Stück schließlich durchgefärbt wirkt. Etwa zehn Minuten benötigt Stöckle, der zu den erfahrensten Glasmachern Deutschlands gehört, für die Anfertigung eines einfachen Trinkgefäßes. Aufwendigere Exponate dauern bis zu anderthalb Stunden, wobei der Glasmacher sich dabei keine Pause gönnen kann, da das Glas während des gesamtes Prozesses nicht abkühlen darf. Zum Vergleich: In der maschinellen Produktion entstehen hunderte von Gläsern – pro Minute.
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Zum Abschluss stellt der Gernheimer Glasmacher das fertige Gefäß in einen 500 Grad heißen Ofen, dessen Temperatur allmählich sinkt. „Das Glas muss langsam abkühlen. Ließe man es in der Raumluft stehen, würde es aufgrund der Spannung innerhalb von wenigen Minuten zerspringen“, erläutert er. Erst am nächsten Morgen kann er die gesamten Produkte eines Tages aus dem Ofen nehmen. Verkauft werden die mundgeblasenen Glasarbeiten im Gernheimer Museumsshop, in ausgewählten Geschäften und online. Mit Sonderanfertigungen gehen Stöckle und seine beiden Kollegen auch auf individuelle Kundenwünsche ein.
Das Material, mit dem er sich seit mehr als drei Jahrzehnten beschäftigt, hat für den Glasmacher bis heute nichts an Faszination verloren. „Ich liebe meinen abwechslungsreichen Beruf, der es mir ermöglicht, jeden Tag handwerklich anspruchsvoll zu arbeiten“, betont Korbinian Stöckle, der seine Ausbildung an der Glasfachschule in Zwiesel absolviert und anschließend Glasgestaltung und Bildhauerei an der Staatlichen Akademie für Bildende Künste in Stuttgart studiert hat. Vor allem sei es auch ein Beruf, bei dem man nie auslernt, erklärt der Sohn einer Glasgraveurin. „Nicht von ungefähr dauert die Glasmacherausbildung im italienischen Murano zehn Jahre. Und auch wenn ich mir im Laufe meines Berufslebens schon viele verschiedene Techniken angeeignet habe, werde ich nie alle beherrschen“, sagt er.
Ob farbig oder klar, mit bunten Tupfen oder geschwungenen Linien, ob mit glatter oder strukturierter Oberfläche – bei Trinkgefäßen gibt es für Korbinian Stöckle keine Alternative zum Glas: „Glas sieht nicht nur schön aus, es ist zudem geschmacksneutral, nachhaltig und ohne Qualitätsverlust zu 100 Prozent recycelbar.“
Regina Doblies
Ein Artikel aus dem WESTFALENSPIEGEL 5/2022.