09.12.2021

Adventskalender – Tür 9

Mit seinem Buch „Besser fühlen – Eine Reise zur Gelassenheit“ führt Dr. Leon Windscheid die Jahresbestseller-Liste in der Kategorie Sachbuch Paperback an, so das Börsenblatt. Zur Veröffentlichung seines Buches im Frühjahr dieses Jahres hat der Münsteraner mit uns über Gefühle, seinen Podcast mit Atze Schröder und besonders eindrückliche Begegnungen gesprochen. Lesen Sie das Interview hier noch einmal:

Herr Windscheid, wie fühlen Sie sich heute?
Heute ausgesprochen gut, ich bin voller Tatendrang, ich schließe gerade ein Projekt ab. Das sind Momente, die ich wirklich liebe. Und das fühlt sich tatsächlich sehr gut an.

Ist das eine Frage, die man häufiger stellen sollte?
Unbedingt. Oft fragen wir einfach: Wie geht es dir? Und dann wird in der Antwort gelogen: Mir geht es gut. Auch bei der Frage „Wie fühlst du dich?“ kann man ausweichend antworten. Meine Lieblingsfrage ist daher: Was ist dein Gefühl heute? Das zwingt dann schon eher, darüber nachzudenken. Denn „gut“ ist kein Gefühl. Man müsste dann vielleicht antworten: Ich bin heiter oder ich bin voller Tatendrang oder aber auch: ich bin betrübt oder wütend.

Leon Windscheid. Foto: MTS

Dr. Leon Windscheid. Foto: MTS

Warum ist es so wichtig, bei den eigenen Gefühlen genauer hinzusehen?
Es führt dazu, dass wir uns selbst besser verstehen. Das zeigt die Forschung ganz deutlich. Wir setzen uns dann mehr damit auseinander, was in unserem Kopf vorgeht. Im nächsten Schritt können wir dann auch andere besser verstehen. Ich bin der festen Überzeugung, dass man so einen ganz neuen Zugang zu den Menschen bekommt.

Was war zuerst da: die Idee, das Buch über Gefühle zu schreiben, oder die Pandemie?
Die Idee für das Buch ist schon vor rund drei Jahren entstanden. Trotzdem spielt die Pandemie natürlich eine Rolle. Ich fange zum Beispiel mit einem Kapitel über die Angst an. Jeder von uns erlebt gerade, dass Angst eine große Bedeutung hat. Die Angst vor einer eigenen Infektion, die Angst, weil die Eltern noch nicht geimpft sind. Oder die Angst, weil man nicht sagen kann, wie es eigentlich für mich weitergeht.

Angst ist jetzt aber nicht gerade ein positives Gefühl.
Das stimmt so nicht. Ich glaube, wir müssen lernen, differenzierter auf die Angst zu blicken. Ich möchte den Menschen zeigen, wie wichtig die Angst ist. Wir haben oft den Eindruck, dass die Angst etwas Falsches ist. Und dass wir mehr Mut brauchen und mit breiter Brust durchs Leben gehen sollten. Aber wenn man genau hinsieht, stellt man fest, dass die Angst unseren Fokus schärft, dass sie uns Kraft gibt und Antrieb sein kann. Oft brauchen wir die Angst, wenn wir Veränderung wollen.

Haben Sie als Kind über Gefühle sprechen können?
Ja, dafür bin ich meinen Eltern auch sehr dankbar. Bei uns gab es Sprüche wie „Indianer kennen keinen Schmerz“ oder „Jungs weinen nicht“ nicht. Mein Bruder und ich hatten es da wirklich gut. Unsere Eltern waren da. Wir hatten immer das Gefühl, bedingungslos geliebt zu werden. Das ist es, was Kinder brauchen. Zur Liebe gehört auch, dass man über schlechte Gefühle reden kann, wenn sie da sind. Bei uns zuhause war das der Fall.

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Sie schreiben auch über die Liebe und wie sich der Dopaminspiegel verändert, wenn man sich verliebt. Entzaubert das die Liebe nicht?
Für mich gar nicht. Im Gegenteil. Wenn wir auf die Liebe gucken, ist sie unglaublich groß, vielleicht sogar aufgebläht. Das führt dazu, dass wir unfassbar große Ansprüche an die Liebe stellen. Wenn man sich dann mal anguckt, wie das eigentlich im Kopf funktioniert, dann kann man einen gelasseneren Zugang zu diesem Gefühl finden.

Was ist mit Wut?
Wut ist eine unerhörte Emotion. Sie kommt aber relativ oft vor. Was machen wir nun damit? In der Arbeitswelt zum Beispiel, wenn man wütend auf den Chef ist. Da darf man nicht einfach mit der Hand auf den Tisch hauen, da wird sich auch nicht mehr angeschrieen. Stattdessen versuchen wir häufig, in Ich-Botschaften einen Konflikt kleinzureden. Das ist gefährlich.

Warum das?
Die Wut ist ja da. Aber bitte nicht falsch verstehen: Ich ermuntere niemanden, sich anzuschreien oder sogar dazu sich zu schlagen. Das wäre Aggression. Diese darf man mit Wut nicht gleichsetzen. Wut als Gefühl zeigt mir erst einmal nur: Hier stimmt etwas nicht, jemand hat einen rote Linie überschritten. Wenn wir die Wut herunterschlucken und in Watte packen, kommt beim Gegenüber nichts mehr an. Er versteht nicht, dass er eine Linie überschritten hat. Besser wäre es, der Wut auf den Grund zu gehen: Was ist das für eine Wut, wie ist sie entstanden, muss sie raus?

Über Gefühle sprechen Sie auch im Podcast mit Atze Schröder. Welchen Einfluss hatte der Podcast „Betreutes Fühlen“ auf das Buch?
Er hat das Buch auf jeden Fall mit geprägt. Zum einen durch die vielen Spaziergänge mit Atze durch die Gefühlswelt. Aber inzwischen ist die Community ja auch so sehr gewachsen, wir haben fast eine Million Menschen, die uns regelmäßig hören, und die haben sich zu den verschiedenen Themen gemeldet, haben über ihre Gefühle geschrieben. Das hat alles Einfluss auf das Buch genommen.

Wie kam es denn überhaupt zum Podcast mit Atze Schröder?
Das war weder meine noch Atzes Idee. Wir sind beim selben Management, und von dort kam die Idee. Ich habe das mit meinen Eltern besprochen, die mich wahrscheinlich am liebsten enterbt hätten. Bei Atze hat man ja nur das Bild vom Ruhrpott-Proleten vor Augen. Enge Hosen, Cowboystiefel, zotige Sprüche. Und dann gab es das erste Gespräch – Atze sagt immer, am Anfang haben wir gefremdelt, ich persönlich sage, ich war schockverliebt. Ich habe gesehen, was das für ein Kopf ist, der da hinter dem Bühnen-Atze steckt. Ein unglaublich belesener, einfühlsamer und emphatischer Mensch, der Philosophen mal so eben aus der Hüfte zitiert. Durch seine Lebenserfahrung gibt er mir sehr viel mit.

Dr. Leon Windscheid: BESSER FÜHLEN – Eine Reise zur Gelassenheit, Rowohlt Polaris, ISBN: 978-3-499-00377-6 Paperback, 256 Seiten Preis: € 16,00

Dr. Leon Windscheid: BESSER FÜHLEN – Eine Reise zur Gelassenheit, Rowohlt Polaris, ISBN: 978-3-499-00377-6 Paperback, 256 Seiten Preis: € 16,00

Beim Podcast „In extremen Köpfen“ treffen sie auf Menschen, die Extremes erlebt haben. Gibt es eine Begegnung, die Sie am meisten beeindruckt hat?
Jede Geschichte ist besonders für mich. Sicher gibt es aber Gespräche, die länger nachhallen. Zum Beispiel mein Treffen mit Eva Szepesi. Sie lebt heute in Frankfurt. Als 13-jähriges Mädchen ist sie nach Auschwitz deportiert worden und stand an der Rampe. Normalerweise wäre sie sofort ins Gas gegangen. Nur weil ihr eine Wächterin den Tipp gegeben hat, sich älter zu machen, wurde sie für die Arbeit ausgewählt. Wenn man mit so jemandem spricht als Enkel der Generation, die zu diesen Tätern gehörte, dann bewegt einen das unglaublich, weil man merkt: Da streckt einem eine Frau die Hand aus. Da ist keine Wut, kein Hass. Da ist eine Offenheit. Kein Vergessen. Sie sagt, Du kannst nichts dafür, Leon, aber du bist verantwortlich dafür, dass so etwas nicht wieder passiert. So ein Gespräch vergisst man nicht.

Bei dem Gespräch spielte auch das Thema Hoffnung eine große Rolle.
Eva Szepesi hat erzählt, wie das KZ befreit wurde, wie sie als junges Mädchen dort herauskam. Sie hat erzählt, wie sie gehofft hat, ihre Mutter und ihren Bruder wiederzusehen, die aber vergast wurden, was sie erst Jahre später als erwachsene Frau herausgefunden hat. Über diesen Zeitraum hat sie sich aber die Hoffnung behalten. Und sie hat erzählt, wie ihre Tochter und selbst ihr Enkel mit diesem ganz komischen Schuldgefühl zu tun haben, nämlich mit dem Schuldgefühl der Überlebenden. So ein Gespräch bewegt nicht nur. Man merkt auch, welche Relevanz Geschichte hat.

Sie machen mehrere Podcasts, schreiben Bücher, halten Vorträge, sind in den sozialen Medien aktiv – überfordern Sie sich manchmal auch, obwohl Sie es besser wissen?
(Lacht) Ich würde lügen, wenn ich jetzt antworten würde: Überforderung gibt es für mich nicht. Ja, das mache ich. Aber ich habe meine Wege gefunden, da auch rauszukommen. Ich habe das große Glück, das, was ich tue, mit ganz viel Freude zu machen. Da ist es nicht immer so leicht zu erkennen, wann man sich selbst überfordert. Aber es gelingt mir immer besser. Ich weiß, wann ich runterfahren muss. Und das tue ich dann auch.

Und wie schalten Sie ab?
Sonntags aufs Fahrrad und rausfahren zu den Rieselfeldern in Münster. Am liebsten sogar alleine. Den Wind ins Gesicht bekommen.

Sie pendeln zwischen Berlin und Münster: Sind die Rieselfelder das Einzige, was Münster Berlin voraushat?
(Lacht) Nein, ganz viel. Aber ich merke, dass mir der Mix gefällt. Wenn ich länger in Berlin war, freue ich mich sehr auf Münster, auf die Beschaulichkeit und darauf, alles mit dem Fahrrad erreichen zu können. Man geht durch die Stadt und kennt Gesichter. Wenn ich dann aber zwei Wochen hier bin, freue ich mich auch wieder auf den Wahnsinn des Großstadtdschungels.

Interview: Jürgen Bröker

Ein Porträt über Leon Windscheid und mehr über das Buch „Besser Fühlen“ lesen Sie in Heft 03/2021 des WESTFALENSPIEGEL.

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