Das Lindener Büdchen in Bochum. Foto: Ruhr Tourismus GmbH/ Coddou
21.04.2020

Auf ein Pläuschken…

Vieles hat sich gewandelt, aber die Büdchen sind geblieben. Bis heute prägen sie das Bild des Ruhrgebiets. Und das ist mächtig stolz auf seine „Kiosk-Kultur“. 

Man nennt sie Bude, Büd­chen, Kiosk oder Trinkhalle, die Rheinländer gehen zum Büdsche, Frankfurter sagen Wasserhäuschen, in Berlin sind sie unter der Bezeichnung Späti bekannt. Hier gibt es Bömskes und Brausepulver, belegte Brötchen, Tabakwaren und Feierabendbier, aber auch Sammelbilder, Schulhefte und im­mer frischen Lesestoff. Von morgens früh bis abends spät steht das Ver­kaufsfenster offen. Bundesweit soll es rund 40.000 dieser kleinen Häuschen für Gelegenheitskäufe geben. Beson­ders beliebt aber ist und bleibt das Pläuschken anne Bude im Revier.

Jede dritte deutsche Trinkhalle steht im Ruhrgebiet. Zwischen 12.000 und 15.000 soll es noch geben, genaue Zahlen kennt niemand. „Es sind Schät­zungen“, sagen die Experten vom Dort­munder „Kioskclub“. Die hatten zusammen mit anderen Liebhabern dieser kleinen Verkaufsstellen 2016 zum Jahr der Buden­Kultur ausgerufen und zum „1. Tag der Trinkhallen“ ins Revier eingeladen. 

Gemisch­te Gefühle zur gemischten Tüte.

„Die Bude ist typisch für die Re­gion, ein lebendiges Stück Ruhrge­biet“, sagt Dietmar Osses, Leiter des LWL-­Industriemuseums Zeche Hanno­ver in Bochum. An der Bude kann man nicht nur einkaufen, sondern auch ein Schwätzchen halten, das Neueste aus der Nachbarschaft erfahren, sich über das Wetter, Krankheiten und Promis austauschen, Fußballergebnisse, Prei­se oder die Politik im Allgemeinen und Besonderen kommentieren. Gemisch­te Gefühle zur gemischten Tüte. Dorf­leben mitten in der Stadt. Auch des­halb sind die Kioske für die Bewohner des Ruhrgebiets einfach Kult. Und für Wissenschaftler wie Dietmar Osses ganz besonders interessant. Denn die Bude ist immer auch Alltagskultur, ein Stück Sozialgeschichte. Ihre Entwick­lung spiegelt auch die Entwicklung des Ruhrgebiets bis heute wider. 

"Bömskes" in Sockels Büdchen in Gelsenkirchen. Foto Ruhr Tourismus GmbH / Sejk

„Bömskes“ in Sockels Büdchen in Gelsenkirchen. Foto Ruhr Tourismus GmbH / Sejk

Dietmar Osses ist mit den Buden groß geworden: „Vom Banker bis zum Rentner, nirgendwo trifft man so viele unterschiedliche, skurrile Typen wie an der Trinkhalle“, weiß er. Schon die offi­zielle Bezeichnung Trinkhalle sei „kom­plett kurios“. Denn eigentlich ist das Trinken verboten, und Halle scheint auch kaum der passende Begriff für das oft winzige Häuschen mit Verkaufs­schalter. Eine Schanklizenz haben die Buden in der Regel nicht, und bis heu­te ist der Verzehr von Alkohol im nähe­ren Umkreis nicht erlaubt. Wo genau dieser endet, ist allerdings nicht immer klar, im Zweifel muss das für jeden Ki­osk neu geprüft werden. 

Industrialisierung bringt Kioske nach Deutschland

Die Entstehung der Trinkhallenkul­tur reicht zurück bis ins 13. Jahrhun­dert. Das Wort Kiosk stammt aus dem Persischen und bedeutete so viel wie Ecke oder Winkel. Im islamischen Kul­turraum war ein Kiosk ursprünglich ein nach mehreren Seiten geöffneter, frei stehender Pavillon in Park­ und Pa­lastanlagen. Die Türken brachten im 17. Jahrhundert die Kioske nach Wien, wo sie sich unter dem Namen Tabak­trafik etablierten. Im 19. Jahrhundert hielt der Kiosk erstmals Einzug als Ver­kaufspavillon für Zeitungen, Blumen und Erfrischungen in die großen öffent­lichen Parks von Paris, später auch auf die großen Boulevards – die Bezeich­nung „Boulevardzeitung“ hat hier ihren Ursprung. 

Cartoon von Holga Rosen.

Cartoon von Holga Rosen. Mehr von Holga Rosen gibt es hier.

Im Zuge der Industrialisierung ka­men die Kioske um 1870 auch nach Deutschland. Die ersten Trinkhallen – auch Seltersbuden genannt – wurden vor allem in den Ruhrgebietsstädten errichtet, um die Arbeiter mit saube­rem Wasser zu versorgen und den Al­koholkonsum einzudämmen. Anders als etwa in Berlin siedelten sich die Trinkhallen hier direkt vor den Werks­toren der Kohlezechen und Stahlwer­ke an. „Damit war gutes Geld zu ver­dienen, pro Schicht kamen bis zu 1000 Leute raus“, macht Dietmar Osses deutlich. Aber auch in Parks, auf be­lebten Plätzen und Straßenkreuzungen oder in Wohnsiedlungen waren die Bu­den immer öfter zu finden. 

Anfangs als Verkaufsstellen für Mi­neralwasser gedacht, entwickelten sich die Kioske im Laufe der Jahre zu Kauf­läden im Kleinformat. „In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dienten sie oft als Existenzsicherung für Kriegs­ versehrte und Bergmannswitwen“, so Dietmar Osses. Aufgrund der steigen­den Nachfrage, aber auch um der Kon­kurrenz standhalten zu können, wurde die Warenpalette ab den 1960er Jah­ren nach und nach erweitert. Heute gibt es in den oft winzigen Verkaufsräumen samt Durchreiche zur Straße und eben­ so kleinem Hinterzimmer beinahe alles, was man im Alltag so braucht. Selbst Spezialwünsche werden gern erfüllt. Stammkunden wissen das zu schätzen. 

Zukunft für das „Büdchen umme Ecke“

Aber in den vergangenen 20 Jahren hat sich die Büdchen­-Kultur verändert. Mit dem Rückzug der Schwerindus­trie haben die Trinkhallen einen Groß­teil ihrer Kundschaft verloren. „Werk­schließungen bedeuten immer auch das Ende der Bude nebenan“, erklärt Dietmar Osses. Tankstellenshops und Öffnungszeiten bis Mitternacht ma­chen den Trinkhallen zwischen Duis­burg und Dortmund das Leben zusätz­lich schwer.

Die Trinkhalle am Park in Bottrop. Foto: Ruhr Tourismus GmbH / Coddou

Die Trinkhalle am Park in Bottrop. Foto: Ruhr Tourismus GmbH / Coddou

Nur in Wohnsiedlungen können sich viele Trinkhallen bis heu­te gegen die Konkurrenz ganz gut be­haupten. Nachdem viele Tante­-Emma­-Läden den großen Supermarktketten weichen mussten, füllen Kioske mit ih­rem vielfältigen Angebot, mit innovati­ven Konzepten und besonderem Ser­vice diese Versorgungslücke vor Ort aus. Aber auch hier können Trinkhallen fast nur noch als Familienunternehmen überleben. „Viele werden von Zuwan­derern betrieben, die mit dem Kiosk den Schritt in die Selbstständigkeit wa­gen“, macht Dietmar Osses deutlich. 

Wer dazu beitragen möchte, dass das „Büdchen umme Ecke“ eine Zu­kunft hat, muss eigentlich nur regelmä­ßig hingehen, einkaufen, Pröhlken hal­ten…

Klaudia Sluka 

Dieser Beitrag erschien zuerst in Ausgabe 4/2016 des WESTFALENSPIEGEL. Zur Magazinübersicht gelangen Sie hier.

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