Auf ein Pläuschken…
Vieles hat sich gewandelt, aber die Büdchen sind geblieben. Bis heute prägen sie das Bild des Ruhrgebiets. Und das ist mächtig stolz auf seine „Kiosk-Kultur“.
Man nennt sie Bude, Büdchen, Kiosk oder Trinkhalle, die Rheinländer gehen zum Büdsche, Frankfurter sagen Wasserhäuschen, in Berlin sind sie unter der Bezeichnung Späti bekannt. Hier gibt es Bömskes und Brausepulver, belegte Brötchen, Tabakwaren und Feierabendbier, aber auch Sammelbilder, Schulhefte und immer frischen Lesestoff. Von morgens früh bis abends spät steht das Verkaufsfenster offen. Bundesweit soll es rund 40.000 dieser kleinen Häuschen für Gelegenheitskäufe geben. Besonders beliebt aber ist und bleibt das Pläuschken anne Bude im Revier.
Jede dritte deutsche Trinkhalle steht im Ruhrgebiet. Zwischen 12.000 und 15.000 soll es noch geben, genaue Zahlen kennt niemand. „Es sind Schätzungen“, sagen die Experten vom Dortmunder „Kioskclub“. Die hatten zusammen mit anderen Liebhabern dieser kleinen Verkaufsstellen 2016 zum Jahr der BudenKultur ausgerufen und zum „1. Tag der Trinkhallen“ ins Revier eingeladen.
Gemischte Gefühle zur gemischten Tüte.
„Die Bude ist typisch für die Region, ein lebendiges Stück Ruhrgebiet“, sagt Dietmar Osses, Leiter des LWL-Industriemuseums Zeche Hannover in Bochum. An der Bude kann man nicht nur einkaufen, sondern auch ein Schwätzchen halten, das Neueste aus der Nachbarschaft erfahren, sich über das Wetter, Krankheiten und Promis austauschen, Fußballergebnisse, Preise oder die Politik im Allgemeinen und Besonderen kommentieren. Gemischte Gefühle zur gemischten Tüte. Dorfleben mitten in der Stadt. Auch deshalb sind die Kioske für die Bewohner des Ruhrgebiets einfach Kult. Und für Wissenschaftler wie Dietmar Osses ganz besonders interessant. Denn die Bude ist immer auch Alltagskultur, ein Stück Sozialgeschichte. Ihre Entwicklung spiegelt auch die Entwicklung des Ruhrgebiets bis heute wider.
Dietmar Osses ist mit den Buden groß geworden: „Vom Banker bis zum Rentner, nirgendwo trifft man so viele unterschiedliche, skurrile Typen wie an der Trinkhalle“, weiß er. Schon die offizielle Bezeichnung Trinkhalle sei „komplett kurios“. Denn eigentlich ist das Trinken verboten, und Halle scheint auch kaum der passende Begriff für das oft winzige Häuschen mit Verkaufsschalter. Eine Schanklizenz haben die Buden in der Regel nicht, und bis heute ist der Verzehr von Alkohol im näheren Umkreis nicht erlaubt. Wo genau dieser endet, ist allerdings nicht immer klar, im Zweifel muss das für jeden Kiosk neu geprüft werden.
Industrialisierung bringt Kioske nach Deutschland
Die Entstehung der Trinkhallenkultur reicht zurück bis ins 13. Jahrhundert. Das Wort Kiosk stammt aus dem Persischen und bedeutete so viel wie Ecke oder Winkel. Im islamischen Kulturraum war ein Kiosk ursprünglich ein nach mehreren Seiten geöffneter, frei stehender Pavillon in Park und Palastanlagen. Die Türken brachten im 17. Jahrhundert die Kioske nach Wien, wo sie sich unter dem Namen Tabaktrafik etablierten. Im 19. Jahrhundert hielt der Kiosk erstmals Einzug als Verkaufspavillon für Zeitungen, Blumen und Erfrischungen in die großen öffentlichen Parks von Paris, später auch auf die großen Boulevards – die Bezeichnung „Boulevardzeitung“ hat hier ihren Ursprung.
Im Zuge der Industrialisierung kamen die Kioske um 1870 auch nach Deutschland. Die ersten Trinkhallen – auch Seltersbuden genannt – wurden vor allem in den Ruhrgebietsstädten errichtet, um die Arbeiter mit sauberem Wasser zu versorgen und den Alkoholkonsum einzudämmen. Anders als etwa in Berlin siedelten sich die Trinkhallen hier direkt vor den Werkstoren der Kohlezechen und Stahlwerke an. „Damit war gutes Geld zu verdienen, pro Schicht kamen bis zu 1000 Leute raus“, macht Dietmar Osses deutlich. Aber auch in Parks, auf belebten Plätzen und Straßenkreuzungen oder in Wohnsiedlungen waren die Buden immer öfter zu finden.
Anfangs als Verkaufsstellen für Mineralwasser gedacht, entwickelten sich die Kioske im Laufe der Jahre zu Kaufläden im Kleinformat. „In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dienten sie oft als Existenzsicherung für Kriegs versehrte und Bergmannswitwen“, so Dietmar Osses. Aufgrund der steigenden Nachfrage, aber auch um der Konkurrenz standhalten zu können, wurde die Warenpalette ab den 1960er Jahren nach und nach erweitert. Heute gibt es in den oft winzigen Verkaufsräumen samt Durchreiche zur Straße und eben so kleinem Hinterzimmer beinahe alles, was man im Alltag so braucht. Selbst Spezialwünsche werden gern erfüllt. Stammkunden wissen das zu schätzen.
Zukunft für das „Büdchen umme Ecke“
Aber in den vergangenen 20 Jahren hat sich die Büdchen-Kultur verändert. Mit dem Rückzug der Schwerindustrie haben die Trinkhallen einen Großteil ihrer Kundschaft verloren. „Werkschließungen bedeuten immer auch das Ende der Bude nebenan“, erklärt Dietmar Osses. Tankstellenshops und Öffnungszeiten bis Mitternacht machen den Trinkhallen zwischen Duisburg und Dortmund das Leben zusätzlich schwer.
Nur in Wohnsiedlungen können sich viele Trinkhallen bis heute gegen die Konkurrenz ganz gut behaupten. Nachdem viele Tante-Emma-Läden den großen Supermarktketten weichen mussten, füllen Kioske mit ihrem vielfältigen Angebot, mit innovativen Konzepten und besonderem Service diese Versorgungslücke vor Ort aus. Aber auch hier können Trinkhallen fast nur noch als Familienunternehmen überleben. „Viele werden von Zuwanderern betrieben, die mit dem Kiosk den Schritt in die Selbstständigkeit wagen“, macht Dietmar Osses deutlich.
Wer dazu beitragen möchte, dass das „Büdchen umme Ecke“ eine Zukunft hat, muss eigentlich nur regelmäßig hingehen, einkaufen, Pröhlken halten…
Klaudia Sluka
Dieser Beitrag erschien zuerst in Ausgabe 4/2016 des WESTFALENSPIEGEL. Zur Magazinübersicht gelangen Sie hier.