Ausgeschenkt
Die Rahmenbedingungen in der Gastronomie sind schwierig, doch es gibt auch Lichtblicke, zeigt ein Beispiel aus Recklinghausen.
Im „Drübbelken“ in Recklinghausen ist an diesem späten Mittwochnachmittag im Herbst von der Krise im Gastgewerbe nicht viel zu spüren. Nicht einmal eine halbe Stunde hat die Szenekneipe geöffnet, da sitzt schon mehr als eine Handvoll Gäste an der Theke. Kaffee, Pils und Weizenbier werden gereicht. Auch die Tische füllen sich, Paare schauen in die Karte, bestellen Schnitzel oder Salat. Stimmengewirr übertönt die dezente Musik. Der Laden läuft.
Das „Drüb“, wie die Recklinghäuser die Kneipe gerne nennen, gehört zum Inventar der Stadt. Seit mehr als 100 Jahren wird in dem Haus in der Münsterstraße Bier ausgeschenkt, seit den 1950er Jahren läuft der Betrieb unter dem Namen „Drübbelken“. Die Kneipe ist ein Unikum mit Restaurantbetrieb und Galerie. Künstler stellen hier gerne ihre Werke aus. Jung und alt kommen, um zu klönen und ein Bier zu trinken. „Wir haben eine über zig Jahrzehnte gewachsene Struktur. Das Drüb hat zudem eine Ausstrahlung, die man immer seltener findet. Was hier alt aussieht, ist auch alt“, sagt der aktuelle Besitzer Daniel Hageleit und lacht.
Tafel gegen Theke
Vor gut acht Jahren hat Hageleit den Gastronomiebetrieb übernommen, nachdem er selbst zwölf Jahre lang dort gekellnert hat. Damals studierte der gelernte Bankkaufmann noch auf Lehramt. Als sich die Gelegenheit bot, ins Drübbelken einzusteigen, verzichtete er auf die Aussicht, sein Leben lang an der Tafel zu stehen. Die Theke war ihm lieber. Seit er der Chef ist, hat Hageleit bereits viele Höhen und Tiefen durchlebt. Vor allem die Pandemie hat ihn und sein Team gefordert. „Wir haben da wirklich gezwungenermaßen eine Vollbremsung hingelegt. Aus einem gut laufenden Vollbetrieb mit 30 Mitarbeitern wurde ein besserer Kiosk. Ich habe aus dem Fenster heraus Bierflaschen verkauft und Essen to go herausgereicht und war plötzlich – abgesehen von den beiden Köchen – ein Einzelkämpfer“, so Hageleit. Die Gäste nahmen seinen Fensterverkauf an. Vor allem das zahlreiche Stammpublikum wollte nicht, dass dieser alte Laden stirbt.
Und trotzdem: „Das Drüb war wahrscheinlich noch nie geschlossen, da musste erst die Pandemie kommen. Die Kneipe so zu sehen, war echt bitter“, sagt Hageleit. Er weiß, dass es ohne staatliche Hilfen nicht funktioniert hätte. Doch auch die haben längst nicht alle Betriebe gerettet. Ein Blick in die Statistik verdeutlicht: In Westfalen gaben zehn Prozent der Gastrounternehmen auf. Dabei hat die Krise vor allem Kneipen getroffen, die kein Essen anbieten, die sich auf den Ausschank von Getränken spezialisiert haben. „Diese Betriebe konnten die Ausfälle nicht durch einen Außer-Haus-Verkauf kompensieren“, sagt Lars Martin, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands (DEHOGA) Westfalen e.V.
Mehr als jede vierte Eckkneipe in Westfalen hat den Zapfhahn zwischen 2019 und 2021 für immer hochgedreht, zeigt eine Auswertung des Statistischen Landesamts. Damit war die Pandemie Beschleuniger für einen Trend, der schon weit vor Corona begann. Denn seit den 1950er Jahren sterben diese Kneipen aus. Ein verändertes Freizeitverhalten der Menschen, das Rauchverbot (seit 2007) und andere Entwicklungen haben den Kneipenschwund befeuert, ehe die Pandemie als Brandbeschleuniger hinzukam.
Hohe Personalkosten
Auch nach dem Ende der Coronamaßnahmen blieben die Rahmenbedingungen in der Gastronomie schwierig. „Anfang 2022 haben sich die Betriebe noch gefreut. Endlich ist Corona vorbei, es gab eine regelrechte Aufbruchstimmung“, sagt Lars Martin. Doch die währte nur kurz. Ende Februar 2022 marschierte Russland in die Ukraine ein. Die Folgen bekam auch die Gastronomie in Deutschland zu spüren. „Zunächst mit seltsamen Randerscheinungen“, erklärt Martin: „Während Corona wurde das Toilettenpapier zur teuren Mangelware, in den Anfangsmonaten des Ukrainekrieges war es das Speiseöl.“ Dabei blieb es nicht. Die Lebensmittelpreise schossen in die Höhe, eine regelrechte Preisspirale setzte sich in Gang.
Dieser Artikel ist aus Heft 6/2023 des WESTFALENSPIEGEL. Ihnen gefällt, was Sie hier lesen? Gerne senden wir Ihnen im Rahmen unseres Schnupperabos zwei kostenlose Ausgaben unseres Magazins zu. Hier geht es zum Schnupperabo.
Vor der Pandemie mussten Betreiber eines Gastrobetriebs rund 35 Prozent der Einnahmen für Personal ausgeben, weitere 30 Prozent für die Lieferanten und die eingekauften Waren, rund fünf Prozent gingen für die Energie drauf, rechnet Martin vor. Doch Steigerungen beim Mindestlohn und ein neuer Tarifabschluss hätten seither allein die Personalkosten um 20 Prozent verteuert. Durch die Inflation sind die Warenkosten ähnlich gestiegen, ganz zu schweigen von der Preissteigerung im Energiebereich. „In den vergangenen eineinhalb Jahren war es für Gastronomen daher eine große Kunst, überhaupt über die Runden zu kommen. Sie standen im Spagat zwischen den Fragen: Wie viel muss ich nehmen, damit ich überleben kann? Und: Wie viel kann ich nehmen, damit die Gäste nicht wegbleiben?“, verdeutlicht Martin die Situation im Gastgewerbe.
Landgasthöfe als Sorgenkinder
Besonders schwer haben es aktuell die Landgasthöfe. „Man kann wirklich sagen, dass sie die Sorgenkinder der Gastronomie sind“, sagt Dehoga-Mann Martin. Früher waren sie eine Art ausgelagertes Wohnzimmer für viele Menschen. Dort war eine willkommene Auszeit vom Alltag möglich – für Familien ebenso wie für Stammtische oder Ausflügler. „Jetzt sehen wir, dass immer mehr von ihnen schließen“, so Martin. Die schwierige wirtschaftliche Lage macht es für die Besitzer immer schwerer, Nachfolger zu finden. Die Kinder von Gastronomen nehmen die Arbeit ihrer Eltern als Selbstausbeutung wahr und entscheiden sich für einen anderen Berufsweg. „Wer soll da auch einsteigen, wenn allenfalls kostendeckend gearbeitet werden kann?“, fragt Martin. Schließlich sind die Realumsätze in der Branche seit 2020 durchgängig im Minus.
Und weitere Kostensteigerungen drohen erst noch: So wird die Mehrwertsteuersenkung für Speisen zum 1. Januar 2024 auslaufen. Statt der aktuellen 7 Prozent sind dann wieder 19 Prozent fällig, wenn die Gäste in der Gastronomie essen. Das hat das Bundeskabinett entschieden, die Abstimmung dazu im Bundestag fand erst nach Redaktionsschluss dieses Textes statt. Zudem droht die Verteuerung der Lkw-Maut im kommenden Jahr die Preise weiter in die Höhe zu treiben. Eigentlich müssten die Betriebe das an die Gäste weitergeben. Eigentlich. Doch auch Drübbelken-Chef Hageleit weiß: Bei vielen Preisen sind die Gastronomen am Limit. Die Gäste in einer Ruhrgebietskneipe seien sicher nicht bereit, neun, zehn oder noch mehr Euro für eine Currywurst mit Pommes zu bezahlen, glaubt der Recklinghäuser.
Personal dringend gesucht
Neben den Preissteigerungen setzt den Betrieben vor allem der Personalmangel zu. Vor Corona waren in Deutschland über zwei Millionen Menschen im Gastgewerbe tätig. Im April 2020 waren es 330.000 Beschäftigte weniger – trotz Kurzarbeit und anderer Unterstützungsmaßnahmen, so eine von der Hans-Böckler-Stiftung in Kooperation mit der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten beauftragte Studie. Aktuell fehlen demnach immer noch 100.000 Arbeitskräfte, um das Vor-Corona-Niveau zu erreichen. Der Personalmangel hat spürbare Folgen. „Betriebe kürzen ihre Öffnungs- oder Küchenzeiten und vergeben weniger Tische“, beobachtet Lars Martin. Dadurch sinken die Einnahmen. „Und beim Gast entsteht durch die Verknappung des Angebots der Eindruck: Ihr seid doch immer ausgebucht, euch kann es nicht so schlecht gehen“, so Martin weiter. Außerdem müssen die Mitarbeiter in zahlreichen Betrieben häufig Überstunden machen. Dadurch wächst ihre Unzufriedenheit.
Für Hageleit ist die Personalsuche ebenfalls ein großes Thema. Auch wenn er aktuell genügend Mitarbeiter hat, die die Getränke an die Tische bringen, hinter dem Tresen und in der Küche stehen oder das Essen auftragen. „Aber das Ganze ist sehr fragil. Wir haben einen Arbeitnehmermarkt. Wenn die Leute bei dir nicht zufrieden sind, sind sie weg“, so Hageleit. Vier Festangestellte und mehr als 20 Minijobber hat er unter Vertrag. Sie ermöglichen „konkrete“ Öffnungszeiten, wie Hageleit es nennt. Jeden Tag geht die Tür im Drübbelken um 17 Uhr auf, warme Küche gibt es immer bis 22 Uhr. Ganz gleich, an welchem Wochentag. Hageleit würde die Küche gerne länger offen halten, doch er hat sich mit seinen Angestellten auf diesen Kompromiss geeinigt.
Ist es nun Glück, eine günstige Lage, unternehmerisches Geschick oder die lange Tradition, die das Drübbelken erfolgreich sein lässt? Wahrscheinlich tragen alle Aspekte dazu bei. Es scheint jedenfalls so, als schiffe die Kneipe in Recklinghausen recht erfolgreich durch das Krisenmeer. Hageleit selbst hat seinen Schritt aus dem Hörsaal hinter den Tresen jedenfalls nie bereut. Und trotz der schwierigen Rahmenbedingungen und der aktuellen Vielzahl an Herausforderungen bleibt er optimistisch: „Ich glaube, wenn Du den Gästen etwas bietest, kommen sie auch. Und dann sind sie auch gewillt, ihr Geld auszugeben.“ Krise hin oder her.
Jürgen Bröker