Mathias Mester. Foto: Nicole Müller
24.08.2021

„Besser geht’s ja nicht“

Der Coesfelder Mathias Mester hat seine Karriere als Parasportler beendet. Er startete bei den Kleinwüchsigen im Speer- und Diskuswerfen sowie im Kugelstoßen und häufte eine große Medaillensammlung an. Im Interview mit dem WESTFALENSPIEGEL spricht der „Weltmester“ über sein größtes sportliches Erlebnis, eine ungewöhnliche Wohngemeinschaft und Kopfballtore gegen Normalgroße.

Seit Ihrem Entschluss, die Karriere zu beenden, sind einige Wochen vergangenen, wie geht es Ihnen mit der Entscheidung?
Nach wie vor fühle ich mich mit der Entscheidung gut und bin froh, dass ich sie so getroffen habe. Mit Blick auf meine Gesundheit war und ist es der richtige Schritt. Ich durfte zum Abschluss noch einmal EM-Gold gewinnen. Besser geht’s ja nicht. Ich habe aber ehrlich gesagt auch noch gar nicht so richtig Zeit gehabt, darüber intensiv nachzudenken. Bisher bereue ich aber nichts.

Was war der Auslöser für den Rücktritt?
Ich schleppe schon seit 2010 eine Rückenverletzung mit mir rum. Damals bin ich operiert worden. Seither habe ich immer wieder Stress. Das äußert sich zum Beispiel durch Taubheitsgefühle in den Beinen, manchmal kann ich mir weder Socken noch Schuhe anziehen. Auch im Training konnte ich seither nicht immer so Gas geben, wie ich das gewollt hätte und wie es auch nötig ist, um Topleistungen abzurufen. Nach dem Sieg bei der Europameisterschaft ist so eine Last von meinen Schultern gefallen, dass ich gesagt habe, es reicht.

Aber da wären doch noch die Paralympics in Tokio gewesen.
Das stimmt, aber das werden nicht die Spiele, wie ich sie schon erleben durfte. Ohne Zuschauer ist es einfach nicht dasselbe. Trotzdem ist natürlich auch ein weinendes Auge bei dieser Entscheidung dabei. Mein Ziel war es, bei den Paralympics eine Goldmedaille zu gewinnen. Die fehlt mir schließlich noch. Das geht nun nicht mehr.

Sie haben eine sehr lange Karriere hinter sich. Rückblickend – gibt es so etwas wie ein Schlüsselerlebnis im Sport, das besondere Highlight?
Ja, absolut. Und das hat nicht einmal etwas mit dem Gewinn einer Medaille zu tun: Paralympics 2012, London, 80.000 Menschen im Stadion, ausverkaufte Hütte. Ich wusste, nach vorne geht nicht mehr viel. Ich habe dann meinen Speer zum letzten Versuch genommen, hab mich zum Publikum gedreht und geklatscht. Da hat aber dann zunächst keiner mitgeklatscht. Ich habe es noch mal versucht, und da habe ich mich dann auch auf der Anzeigetafel gesehen. Und plötzlich haben alle mitgemacht. Wusch, wusch! Das hat mich so getragen, dass es im Wettkampf mein weitester Wurf war. Auch wenn es nach vorne nicht mehr gereicht hat. Aber dieses Gefühl kann mir keiner mehr nehmen. Und wenn man einmal dabei war, will man das immer wieder erleben.

Erfolgreicher Speerwerfer: Mathias Mester. Foto: PR Ignatov

Erfolgreicher Speerwerfer: Mathias Mester. Foto: PR Ignatov

Wie sind Sie überhaupt zur Leichtathletik gekommen? 
Das war tatsächlich Zufall. Ich komme aus einer Fußballfamilie. Mein Vater hat recht hoch gespielt, meine beiden Cousinen haben beide in der Frauenbundesliga gekickt. Ich habe in der Kreisliga C rumgedümpelt, habe aber auch schon mal ein Kopfballtor gegen Normalgroße erzielt (lacht).

Sie haben gegen Normalgroße gespielt?
Ja. Das hat Spaß gemacht, auch wenn es manchmal natürlich schwer war. In einigen Zweikämpfen war ich chancenlos. Aber ich glaube, ich habe es insgesamt ganz gut gemacht. Und ich bin davon überzeugt, dass mein Gegner wegen meines Kopfballtores immer noch Straftraining macht (lacht). Ich bin dann bei einem Hobbyturnier von meinem ersten Leichtathletiktrainer Herbert Hessel entdeckt worden. Er hat mich mal nach Leverkusen zum Training mitgenommen. Da habe ich dann Steffi Nerius getroffen, die mir einen Speer in die Hand gedrückt hat. Das hat gleich gut funktioniert. So bin ich dabei geblieben.

Und dann haben Sie Ihre Zelte in Westfalen abgebrochen.
Genau, ich habe dann ungefähr ein Jahr später nach Leverkusen gewechselt und bin auch dort hingezogen. Das war auch so eine Geschichte, ich habe in einer WG mit einem anderen paralympischen Sportler gewohnt. Der war sehbehindert, hatte nur noch fünf Prozent Sehvermögen. Wir haben uns wirklich super ergänzt in der Wohnung: Er hat den Staub nicht gesehen, und ich bin nicht drangekommen. Das war wirklich eine gute Zeit.

Ab welchem Alter haben Sie gemerkt, dass Sie anders sind als andere Kinder?
Zum ersten Mal ist es mir im Kindergarten aufgefallen. Die anderen Kinder hatten alle einen anderen Stuhl. Die größeren Stühle hatten eine andere Farbe. Ich saß immer noch auf dem kleinen Stuhl und kam mit den Füßen immer noch nicht auf den Boden. In der Schule hatte ich dann einen Extrakleiderhaken, klar, da ist mir das schon aufgefallen. Beim Sport war das aber erst kein Thema. Trotzdem war der Wechsel in den paralympischen Sport für mich wichtig. Ich wollte auf Augenhöhe mit anderen Athleten starten. Ich wollte der beste Kleinwüchsige der Welt werden. Das hat mich gereizt.

Sie gehen mit Ihrer Behinderung sehr offensiv um. War das immer so?
Es gab auch schwierige Phasen. Zum Beispiel die Pubertät: Man schreibt den ersten Liebesbrief. Das kennt ja noch jeder: Kreuze an, ob Du mit mir gehen willst: ja, nein, vielleicht. Und dann wartet man auf die Antwort und es ist nur das Vielleicht angekreuzt. Und dann kommt noch als Antwort: Du bist ja ganz nett, hast ein hübsches Gesicht, aber aufgrund der Größe kann ich das nicht. Das ist im jugendlichen Alter schwierig. Inzwischen ist das aber kein Problem mehr. Zum Glück gibt es ja auch Frauen, die mit meiner Größe kein Problem haben. Und wenn doch: Ciao, mach’s gut. Ich bin so, wie ich bin, und so fühle ich mich wohl.

Was nervt Sie als Kleinwüchsiger am meisten?
Meine Behinderung nervt mich gar nicht. Ich bin ja einer der großen Kleinen mit 1,425 Metern (lacht). Ich bin da wirklich mit mir im Reinen. Das einzige Problem ist, dass ich beim Einkaufen nicht ganz oben an die Regale komme. Aber dann ist halt klettern angesagt, oder ich mache den Trick mit dem Haarspray. Ich schnappe mir eine lange Dose und schubse das, was ich haben will, runter. Dann muss ich nur gut fangen. Und natürlich kann man auch mal jemanden fragen. Auch meine Wohnung habe ich ganz normal eingerichtet.

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Können andere Kleinwüchsige auch über Ihre Witze lachen?
Es gab zumindest noch keinen Gegenwind von anderen Kleinwüchsigen. Ich lebe die Inklusion. Ich lache gerne über mich selbst und auch über meine Behinderung. Das bin ich.

Hatten Sie dennoch mal das Gefühl, über das Ziel hinausgeschossen zu sein?
Ja, voll. Das kommt immer mal wieder vor. Zum Vatertag habe ich zum Beispiel mal einen Gartenzwerg in die Hand genommen und dazu geschrieben: Alles Gute zum Vatertag. Aber ich glaube, das zeichnet mich aus. Ich mache mich ja über mich lustig, nicht über Kleinwüchsige an sich.

Was kommt jetzt?
Ich habe wirklich viel um die Ohren, es gibt verschiedene Anfragen zu Projekten. Mein erstes Buch ist erschienen. Und ich genieße es gerade nur noch zwei Mal die Woche zum Training zu gehen. Ich möchte mich weiter in Richtung Entertainment entwickeln. Aber auch Vorträge halten, Vorbild und Botschafter sein. In Richtung Inklusion etwas bewegen.

Interview: Jürgen Bröker

Im August ist das erste Buch von Mathias Mester, das er gemeinsam mit dem Journalisten Holger Schmidt geschrieben hat, erschienen: „Klein anfangen – groß rauskommen. Mein verrücktes Leben auf 1,425 Metern“, Verlag Die Werkstatt, ISBN-13: 9783730705650

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