Die Binnenschifffahrt auf den Kanälen wird ausgebremst
Das Kanalnetz ist veraltet. Die Sanierung hinkt hinterher. Dabei hat dieser Transportweg Potenzial.
Der Bug der Kladi schiebt sich leise unter dem gehobenen oberen Tor der großen Schleuse in Dorsten hindurch. Vorsichtig, aber routiniert manövriert Kapitän Dirk de Heer sein Frachtschiff in die Mitte der 220 Meter langen Kammer. Er verlässt seine Führerkabine, nimmt ein dickes Tau und befestigt sein Schiff damit an einem der Poller an Land. Hinter ihm schließt sich das Tor und der Schleusungsvorgang beginnt.
„Heute läuft es gut“, freut sich de Heer und springt ans Ufer. Kaum Wartezeit vor den Kanalstufen auf dem Wesel-Datteln-Kanal (WDK). Das war in den vergangenen Monaten häufig anders. Regelmäßig bringt der Niederländer Getreide, Futtermittel oder andere Güter von Rotterdam nach Münster. Eine Strecke, für die er im Normalfall knapp zwei Tage benötigt. „Aber in den letzten Wochen habe ich teilweise einen ganzen Tag nur mit Warten verbracht“, sagt er. Stau also nicht nur auf den Autobahnen in Westfalen sondern auch auf den Wasserstraßen.
Marode Nischenpoller bremsen Binnenschiffe aus
Einen Grund dafür gibt das sinkende Wasser in der großen Kammer erst nach und nach frei. Dort in den zahlreichen Nischen sind Poller angebracht, an denen die Schiffe auf ihrem Weg zu Tal oder zu Berg normalerweise festmachen. Das Problem: Sie stammen noch aus dem Baujahr der Schleuse. Und das liegt fast 90 Jahre zurück.
„1930 beim Bau der Schleuse waren die Schiffe wesentlich kleiner, hatten weniger Ladung“, sagt Tobias Knopp vom Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt (WSA) Duisburg-Meiderich, das für den Wesel-Datteln-Kanal (WDK) zuständig ist. Heute gibt es große, 110 Meter lange und 11,45 Meter breite Transportschiffe, die mit einer Abladetiefe von 2,80 Metern über den Kanal fahren. Dazu Schleppverbände mit bis zu 180 Metern Länge und einer entsprechend größeren Ladekapazität.
Weil die Nischenpoller der höheren Zugkraft der großen Kähne nicht mehr standhalten, dürfen sie seit Ende des vergangenen Jahres nicht mehr genutzt werden. Deshalb darf auch nur noch ein Schiff pro Schleusungsvorgang in die große Kammer einfahren, obwohl dort mehr Platz wäre. Das hat in Stoßzeiten zu enormen Verzögerungen geführt.
„Es gab hier Zeiten, da lagen da unten im Wartehafen so viele Schiffe, dass man trockenen Fußes von einer Kanalseite zur anderen laufen konnte, ohne eine Brücke zu benutzen“, sagt Marius Werner, Schichtleiter an der Schleuse Dorsten. Vor allem als die zweite, kleine Kammer grundsaniert wurde, kam es zu Engpässen und Verzögerungen.
Keine Ausweichmöglichkeit auf dem Kanal
Stillstand ist alles andere als wirtschaftlich. Das gilt auf der Straße und erst recht auf dem Wasser. Allein über den WDK werden jährlich etwa 20 Millionen Tonnen Güter transportiert. Vor allem Mengenwaren wie Kies, Sand, Kohle oder Packschnitzel. Spezielle Frachter transportieren zudem Chemikalien. Auch der Dortmund-Ems-Kanal (etwa 17 Mio. Tonnen), der Rhein-Herne-Kanal (rund 14 Mio. Tonnen), der Mittellandkanal (rund 21 Mio. Tonnen) und die Weser (rund 8 Mio. Tonnen) seien äußerst wichtige Transportadern für die Güterbinnenschifffahrt im deutschen Wasserstraßennetz, sagt Fabian Spieß, Referent beim Bundesverband der Deutschen Binnenschifffahrt und fügt hinzu: „Da es – anders als auf der Straße – keine beziehungsweise nur sehr zeitintensive Umfahrungsmöglichkeiten gibt, haben Störungen und Schäden an der Wasserstraßeninfrastruktur große Auswirkungen weit über das lokale Fahrtgebiet hinaus.“
Auswirkungen, die auch der Chemiepark Marl zu spüren bekommt. Im vergangenen Jahr schlug der Hafen des Chemieparks 2,8 Millionen Tonnen Flüssigkeiten und unter Druck verflüssigte Gase um. Hinzu kamen noch Kohlelieferungen für die eigenen Kraftwerke. „Wir müssen uns ganz schön anstrengen, um unseren Lieferverkehr auf dem Wasserweg in erforderlicher Frequenz aufrechtzuerhalten“, sagt Andreas Fröning vom Chemiepark angesichts der aktuellen Probleme im Wasserstraßennetz. Eine Verlagerung der Transporte vom Binnenschiff auf die Straße oder die Schiene wäre für ihn aber keine Alternative. „Dann müssten Werktag für Werktag zusätzlich etwa 600 Lkw oder 300 Güterwagen allein für uns unterwegs sein. Für den gesamten WDK dürfte dieses zusätzliche Verkehrsaufkommen etwa das Zehnfache betragen“, sagt Fröning. Die ohnehin schon überlasteten Straßen würden kollabieren.
Dortmund-Ems-Kanal als Rückgrat
Die Kanäle in NRW sind insgesamt über 460 km lang. Rund 450 km davon werden von Güterschiffen genutzt, so das WSA. Sie zählten zu den verkehrsreichsten deutschen Wasserstraßen, eröffneten dem Ruhrgebiet den Zugang zu den Nordsee- und Rheinmündungshäfen und machten den Weg frei für Warentransporte bis in den osteuropäischen Raum. „Rückgrat des westdeutschen Kanalnetzes ist der Dortmund-Ems-Kanal. Er schließt das Ruhrgebiet direkt an den Seehafen Emden an“, sagt Claudia Thoma vom WSA.
Aktuell wird dieses Rückgrat – genauer die Südstrecke des Dortmund-Ems-Kanals zwischen Bergeshövede und Datteln – modernisiert. Zum Beispiel im Abschnitt Münster, wo das WSA die Verbreiterung des Kanals vorantreibt.
Auch die Industrie- und Handelskammern (IHK) betonen, dass gerade im Ruhrgebiet zahlreiche Industrieunternehmen auf zuverlässige Binnenschiffstransporte angewiesen sind. Um so problematischer sei der marode Zustand vieler Schleusen. „Wenn Schleusen tagelang nicht oder nur eingeschränkt benutzbar sind, kommt die Logistikkette zum Erliegen. Daraus resultieren erhebliche Zusatzkosten für die Unternehmen und eine Schwächung ihrer Wettbewerbsfähigkeit“, sagt Joachim Brendel, Bereichsleiter Industrie und Verkehr der IHK Nordwestfalen in Münster. An der Verbesserung der Situation wird gearbeitet, wie die Baumaßnahmen am Rhein-Herne-Kanal sowie am Datteln-Hamm-Kanal zeigen. „Insgesamt sind derzeit Baumaßnahmen mit einem Volumen von 2,8 Milliarden Euro im Bundeshaushalt veranschlagt. Davon wurden bis 2017 rund 1,6 Milliarden verausgabt. Für dieses Jahr stehen 1,2 Milliarden Euro zur Verfügung“, sagt WSA-Pressesprecherin Thoma.
Menschliche Festmacher helfen an Kanalschleusen
Und auch für das Problem mit den Nischenpollern hat das WSA inzwischen eine Lösung gefunden. „Wir werden vorübergehend Festmacherdienste an den großen Schleusen einrichten“, sagt Knopp. Diese sollen von Ende des Jahres an durch ein Seil gesichert an der Kammer hin und her laufen und die Binnenschiffe an den Pollern an Land fest- und nach dem Schleusungsvorgang wieder losmachen. So lange, bis die maroden Nischenpoller ausgetauscht sind. Das mutet zwar wie eine Lösung aus längst vergangenen Zeiten an, könnte aber kurzfristig tatsächlich die Störungen entlang der Wasserstraßen in Westfalen beheben. „Das finde ich gut. Dann können wieder zwei Schiffe in die Schleuse“, sagt auch Skipper de Heer und springt zurück auf sein Schiff, das nun schon gut eineinhalb Meter unterhalb der Kammerkante liegt. Bald danach ist die Kladi unten angekommen. Das untere Schleusentor hebt sich und de Heer hat freie Fahrt Richtung Rotterdam.
Jürgen Bröker
Dieser Beitrag stammt aus dem WESTFALENSPIEGEL Heft 5_2018.