„Corona hat seinen Schrecken verloren“
Keine Tests, keine Masken, keine Quarantäne: Es ist der erste Herbst seit langem ohne Corona-Auflagen. Im Interview erklärt der Virologe Prof. Stephan Ludwig, worauf wir uns einstellen müssen, ob alte Tests noch funktionieren und wer sich impfen lassen sollte.
Herr Prof. Ludwig, droht in der kalten Jahreszeit eine neue Infektionswelle?
Wie in jedem Herbst ist es sehr wahrscheinlich, dass Erkrankungen der Atemwege zunehmen werden. Das gilt nicht nur für SARS CoV 2, sondern auch für Influenza und andere Krankheitserreger der Atemwege. Deshalb gehe ich auch davon aus, dass die Corona-Inzidenzen wieder ansteigen werden. Allerdings hat sich der Erreger verändert. Er hat seinen Schrecken verloren.
In wieweit?
SARS CoV 2 ist nicht mehr so aggressiv wie zu Beginn der Pandemie. Das liegt an der guten Herdenimmunität durch die Impfungen und bereits durchgemachte Infektionen in der Bevölkerung. Daher kann man das Virus zwar nicht als harmlos bezeichnen, aber doch in die Kategorie der normalen Erreger für Atemwegserkrankungen einordnen. Mit hohen Hospitalisierungszahlen ist nicht mehr zu rechnen.
Vielerorts steigen die Coronazahlen wieder – in Zeiten, in denen Tests nicht mehr verpflichtend sind: Wie stellt man die Inzidenz überhaupt fest?
Da gibt es ein beim Grippemonitoring erprobtes System, das beim Robert-Koch-Institut (RKI) angesiedelt ist. In sogenannten „Sentinelpraxen“, die über das Land verteilt sind, werden Corona-Erkrankungen registriert und ganz schnell an das RKI gemeldet. Diese Praxen bilden einen guten Durchschnitt von dem ab, was im Land passiert. Daher kann man anhand dieser Daten ganz gut erkennen, ob sich eine Infektionswelle aufbaut.
Es gibt noch andere Methoden: Wie verlässlich ist etwa die Messung der Virenlast im Abwasser?
Wider Erwarten funktioniert das gut. Allerdings müssen die Ausschläge schon sehr hoch sein. Außerdem hat man bei diesem Verfahren keine Möglichkeit, das Infektionsgeschehen auf einzelne Personen zurückzuführen. Es zeigt aber auch relativ gut und unmittelbar, ob die Erregerlast in der Bevölkerung ansteigt.
Das Coronavirus mutiert ständig, mit welcher Variante haben wir es aktuell zu tun?
Die zuletzt aufgetauchte Variante heißt Pirola. Aber auch sie ist wie die jüngsten anderen Varianten im Grunde genommen eine Subvariante von Omikron. Auch wenn sich Pirola mit bis zu 30 Mutationen von bisherigen Omikron-Varianten unterscheidet, gibt es weder eine erhöhte Immunflucht noch eine besondere Verschärfung der Krankheitssymptome zu beobachten. Auch das deutet darauf hin, dass die Bevölkerung inzwischen einen guten Immunschutz aufgebaut hat.
Kann ich meine Tests, die aus dem letzten Winter noch in der Schublade liegen, trotz der immer neuen Varianten noch verwenden?
Diese Tests sind breit angelegt. Selbst als es den Wechsel von der Delta- zur Omikronvariante gab, hat sich gezeigt, dass die Antigen-Test weiterhin funktionieren. Das gilt auch für die neue Pirola-Variante. Allerdings sollte man schon beachten, dass die Tests auch ein Verfallsdatum haben. Der Gebrauch nach diesem Verfallsdatum kann zu falschen Testergebnissen führen. Wenn man einen Verdacht auf eine Coronainfektion hat und auf Nummer sicher gehen möchte, sollte man sich besser einen neuen Test besorgen.
Welche Empfehlung haben Sie ansonsten für die bevorstehenden Herbstwochen?
Die Bevölkerung ist ja hinsichtlich von Atemwegserkrankungen inzwischen sensibilisiert. Daher werden die Menschen hoffentlich nicht mit einer starken Erkältung noch ins Büro gehen, sondern sich eher von anderen fernhalten. Es gibt keine staatlichen Maßnahmen mehr. Daher muss einfach der gesunde Menschenverstand Einzug halten. Das heißt: In engen Räumen, sei es in öffentlichen Verkehrsmitteln oder bei anderen Gelegenheiten, macht es durchaus Sinn, sich auch mal wieder eine Maske aufzuziehen.
Was ist mir einer Impfung?
Die Empfehlung der Stiko (Anm. d. Red: Ständige Impfkommission) ist da gut durchdacht. Menschen mit Vorerkrankungen oder Menschen über 60 sollten sich impfen lassen, aber nicht mehr die breite Bevölkerung.
Sie haben gesagt: Corona hat den Schrecken verloren – kann der Schrecken noch einmal zurückkommen?
Wenn noch einmal ein sehr aggressives Coronavirus kommt, kann man relativ sicher sein, dass es auf einen neuen Übergang vom Tier auf den Menschen zurückzuführen ist, es sich also um ein ganz neues Coronavirus handeln wird. Man muss aber auch bedenken, dass menschliche Coronaviren auch auf Tiere überspringen können. Im Tier haben diese eine ganz andere Umgebung in den Zellen. Damit ändert sich das Virus in einer Weise, die neue Probleme machen könnte. Aber für ein solches Szenario gibt es derzeit keine Hinweise. Unter dem Strich lässt sich festhalten: Wir haben den Übergang von einem pandemischen in ein endemisches Virus geschafft. Der Großteil der Bevölkerung ist gut geschützt.
Interview: Jürgen Bröker, wsp