
Das große Verschlanken
Die Gebietsreform vor 50 Jahren hat die kommunalen Grenzen verschoben. Das Ziel: gleichwertige Lebensverhältnisse in den Städten und auf dem Land zu schaffen. Dennoch gab es vielerorts Proteste.
In den 1970er Jahren mussten viele Menschen ihr Autokennzeichen wechseln. So wurde im westfälischen Halle anstelle des HW das GT für den neu gebildeten Kreis Gütersloh eingeführt. Witten verlor sein WIT und bekam EN für den Ennepe-Ruhr-Kreis, Tecklenburg musste auf sein TE verzichten und erhielt stattdessen das ST des Kreises Steinfurt. Und die Berleburger im Wittgensteiner Land gaben ihr BLB ab und fuhren mit dem SI für Siegen-Wittgenstein. Der Grund für den Schilderwechsel war ein gewaltiges, viel diskutiertes Projekt: die bundesweite kommunale Gebietsreform vor 50 Jahren. Auch in Nordrhein-Westfalen wollte die Landesregierung mit Innenminister Willi Weyer die bis dahin in sogenannten Ämtern organisierten Kommunen zu leistungsfähigeren Großgemeinden zusammenschließen. „So wurden zwischen 1965 und 1975 in NRW knapp 2300 Kommunen reformiert, getrennt und verschmolzen. Oder wie es auch hieß: ‚auseinandergerissen und zwangsvereint‘. Am Ende blieben insgesamt 396 Städte und Gemeinden übrig“, sagt die Historikerin Claudia Kemper vom LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte in Münster, das sich wissenschaftlich mit der Gebietsreform beschäftigt und im Februar 2025 an einer Tagung über die Reform in Westfalen und im Rheinland beteiligt ist.
Mehr Effizienz und System
Das Ziel war: Modernisierung und mehr Effizienz in der kommunalen Landschaft. Die Gebietsreform sollte Doppel- und Mehrfachstrukturen beseitigen, die die öffentlichen Haushalte viel Geld kosteten. „In den Ämtern hatte jede Gemeinde ihren Gemeinderat, einen eigenen Etat, ein eigenes Kassen- und Rechnungssystem und oft unterschiedliche Steuerhebesätze. Jede kleine Gemeinde konnte auf eigene Faust und ohne Rücksicht auf eine größere Konzeption Wohnungsbau oder Industrieplanung betreiben“, erklärt Claudia Kemper. „Die Folge waren die eine oder andere Fehlinvestition, Zersiedelung und wenig sinnvoller Wettbewerb benachbarter Gemeinden, etwa um die Ansiedelung steuerträchtiger Industrie- und Gewerbebetriebe. Die Reform sollte durch die systematische Verteilung von Infrastrukturen dazu führen, gleichwertige Lebensverhältnisse in den Städten und auf dem Land zu schaffen.“ „Es ging dabei etwa um Übersichtlichkeit bei den Abwassergebühren oder um die Frage, wo weiterführende Schulen und städtische Bäder gebaut werden“, sagt Christoph Lorke, ebenfalls Historiker am LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte. Er betont den großen Rückhalt aus der Wissenschaft für eine solche Gebietsreform sowie den parteiübergreifenden Konsens in der NRW-Landespolitik. „Die Gebietsreform war schon lange geplant und ging auf Überlegungen aus den 1950er, teils sogar aus der Zwischenkriegszeit zurück.“
Dieser Beitrag ist zuerst in Heft 6/2024 des WESTFALENSPIEGEL erschienen. Möchten Sie mehr lesen? Gerne senden wir Ihnen zwei kostenlose Ausgaben unseres Magazins zu. Hier geht es zum Schnupperabo.
Der Glaube an die Richtigkeit der Reform war in der damaligen Landespolitik so groß, dass sie schließlich mit wenig demokratischem Feingefühl und mit geradezu bürokratischer Selbstherrlichkeit durchgeführt wurde, wie Claudia Kemper und Christoph Lorke beide betonen. „Die Landesregierung ging im Schulterschluss mit der Opposition effizient und damals als nicht ganz demokratisch empfunden vor. So wurde das kommunale Vetorecht außer Kraft gesetzt. Es gab vor der Gebietsreform ein Gesetz, das Gemeinden erlaubte, Einspruch zu erheben, wenn an ihrem Territorium etwas verändert wird. Dieses Gesetz ist vom Landtag in Düsseldorf ausgehebelt worden“, verdeutlicht Claudia Kemper.
Proteste gegen Zusammenschluss
Die Reform hatte immense Auswirkungen. So ist die einstige Großstadt Wanne-Eickel seit dem 1. Januar 1975 „nur noch“ ein Teil der Stadt Herne. Im ländlichen Raum wurden Dörfer zu Städten zusammengelegt, Städte und Gemeinden zu neuen Kreisen. Durch die Zusammenschlüsse umfassten die Kreise eine viel größere Fläche, weswegen für viele Menschen die Entfernung zur Kreisstadt größer wurde. „Manche mussten plötzlich in die ‚verfeindete‘ Stadt fahren, um zu den Ämtern zu gehen“, sagt Christoph Lorke. „Gronau und Epe, Rheda und Wiedenbrück oder Herzebrock und Clarholz sind dafür Beispiele. Orte, die durch die Geschichte oder durch die Konfessionen jahrzehnte- oder jahrhundertelang getrennt waren. Das war für viele Menschen schwierig.“ Daher blieb auch der Widerstand nicht aus. Bürgermeister und Gemeinderäte wetterten gegen „die da oben“. In Bürgerversammlungen wurde vielerorts energisch diskutiert. In Wattenscheid bildete sich eine Bürgerinitiative gegen den Zusammenschluss mit Bochum. „Aktion Bürgerwille“ nannte sich eine in vielen Gemeinden aufkommende Protestbewegung gegen die kommunale Neugliederung. „Die Gebietsreform hatte keinen guten Ruf und war von Anfang an von Widerstand und Kritik begleitet“, resümiert Claudia Kemper. „Im ländlichen Raum bemängelten Kritiker, dass in vielen Gemeinden die Identität, das Wir-Gefühl und die Bereitschaft, sich für das eigene Dorf einzusetzen, verloren gegangen ist.“

Das Kunstprojekt „Schilderwechsel“ nimmt die Gebietsreform in den Blick. David Loscher und Sina Ebell untersuchen die Auswirkungen auf persönliche Biografien im heutigen Kreis Steinfurt. Foto: Onno Bargfrede
Und wie ist die heutige Sicht auf die Reform? „Sie ist eher in den Orten, die gegen ihren Widerstand zusammengelegt wurden, im lokalen Gedächtnis geblieben und als Zäsur verankert“, sagt Claudia Kemper. „Da, wo erst niemand etwas mit diesen neuen künstlichen Produkten wie Kreis Steinfurt oder Kreis Gütersloh anfangen konnte“, ergänzt Christoph Lorke. Trotz allen Streits zwischen dem Land und den Kommunen: „Insgesamt konnte die Gebietsreform ziemlich reibungslos umgesetzt werden. Das Ziel wurde erreicht, die Verwaltung schlanker zu machen und die Zahl der Posten zu verringern“, sagt Claudia Kemper. „Und vor Ort gab es durchaus auch Interesse an neuen Ballungszentren, um darüber die eigene Wirtschaftskraft zu forcieren.“ Und dennoch: „Die politischen Entscheidungsträger in Düsseldorf als auch vor Ort hatten das politische Potenzial von Emotionen und die gesellschaftliche Dynamik in den Gemeinden unterschätzt“, bilanziert Claudia Kemper. Christoph Lorke bestätigt das: „Es wurde ‚von oben‘ entschieden. Dieser Eindruck bleibt bei vielen.“
Martin Zehren, wsp
Zahlreiche Städte und Kreise in NRW feiern in diesem Jahr ihre Neugliederung vor 50 Jahren – auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Der Kreis Borken, der aus den früheren Landkreisen Ahaus und Borken entstanden ist, würdigt das Jubiläum im März mit einem Festakt, bei dem auch Ministerpräsident Hendrik Wüst sprechen wird, der selbst aus Rhede stammt. Die „Großstadt Hamm“ feiert ihre vor 50 Jahren gewonnene Vielfalt im Sommer mit mehreren Festen in den Stadtbezirken. Bereits 2024 hat das Münsterland das Kunstprojekt „Schilderwechsel“ gestartet. Fünf Kunstprojekte setzen sich mit den Auswirkungen der Gebietsreform auseinander.
Die Tagung „Neuordnung als Chance? Kommunale Gebietsreform in Rheinland und Westfalen“ findet vom 19. bis 21. Februar 2025 im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, in Duisburg statt. Anmeldungen per E-Mail an: anmeldung@lav.nrw.de. Der Eintritt ist frei.