Therapieplätze sind schwer zu bekommen. Foto: Imago/Felix Jason
04.10.2021

Das lange Warten auf Therapie

Der Bedarf an psychotherapeutischer Behandlung ist groß, doch es dauert, bis Patienten einen Therapieplatz bekommen – woran hakt es im System?

Professor Jürgen Margraf findet deutliche Worte. „Dieser Zustand ist unvertretbar“, sagt der Leiter des Forschungs- und Behandlungszentrums für psychische Gesundheit in Bochum (FBZ). Gemeint sind die langen Wartezeiten für die Patientinnen und Patienten mit psychischen Erkrankungen auf einen Therapieplatz. Fast sechs Wochen dauert es, ehe die Patienten einen Ersttermin beim Psychotherapeuten wahrnehmen können, etwa 20 Wochen, ehe die Therapie beginnen kann, so die Bundespsychotherapeutenkammer.

Nicht nur die langen Wartezeiten sind ein Indikator für den gestiegenen Bedarf, auch der BKK Gesundheitsreport (2018) zeigt: Der Anteil an psychischen Erkrankungen an den Krankschreibungen hat in den vergangenen 40 Jahren von zwei auf 16,6 Prozent zugenommen. Depressionen sind demnach die zweithäufigste Diagnosegruppe für Arbeitsunfähigkeit. Mit 43 Prozent sind psychische Erkrankungen inzwischen die deutlich häufigste Ursache für eine krankheitsbedingte Frühverrentung.

„Das Rad dreht sich immer schneller weiter“

Für den Anstieg gibt es zahlreiche Gründe. „Zum einen ist die Welt für viele Menschen bedrohlicher und ungeordneter geworden. Das Rad dreht sich immer schneller weiter. Auch die Familien, die früher vieles aufgefangen haben, sind nicht mehr so stabil. Dadurch fühlen sich viele überfordert, sie werden aus der Bahn geworfen“, sagt LWL-Gesundheitsderzernent Professor  Meinolf Noeker. Außerdem habe eine neue Sensibilität für psychische Erkrankungen dazu geführt, dass mehr Betroffene Rat suchen.

LWL-Krankenhausdezernent Prof. Dr. Meinolf Noeker. Foto: LWL

LWL-Krankenhausdezernent Prof. Dr. Meinolf Noeker. Foto: LWL

„Der Bedarf an psychotherapeutischer Behandlung ist riesig – und er wird nicht gedeckt“, sagt Margraf. Er betrachtet die Lage nicht nur als Therapeut sondern auch aus der wissenschaftlichen Perspektive. Denn am FBZ sind Forschung, Lehre und Ausbildung sowie Therapie unter einem Dach und das für die gesamte Lebensspanne der Patienten vom Kleinkind bis zum Erwachsenen. Rund 3000 Menschen mit psychischen Erkrankungen werden am FBZ jedes Jahr behandelt. Es könnten wahrscheinlich doppelt oder dreimal so viele sein.

Auch in Bochum müssen Menschen mit seelischen Krankheiten auf einen Therapieplatz warten. „Wegen des großen Andrangs können wir unsere Warteliste typischerweise nur sechs Wochen im Jahr öffnen, dann ist sie schon wieder geschlossen. Bei den niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen sieht es meist nicht anders aus“, so Margraf. Besonders lang sind die Wartelisten im Ruhrgebiet. Ein Grund für die missliche Lage ist nach seiner Auffassung die falsche Bedarfsplanung. „Im Ruhrgebiet gibt es weniger Kassensitze für Psychotherapeuten als anderswo. Warum das so ist, erschließt sich mir nicht“, sagt er.

Kliniken stark ausgelastet

Auch die Kliniken sind stark ausgelastet. „Die Notfälle werden aber versorgt. Wir weisen keinen ab, dem es richtig schlecht geht, auch wenn unsere Kliniken bereits überbelegt wären“, sagt Noeker. Um die Situation etwas zu verbessern, wurde in den vergangenen Jahren die Verweildauer der Patienten in den Kliniken reduziert. Dadurch kann man nun pro Jahr mehr Patienten versorgen als vor 20 Jahren, auch wenn sich die Bettenzahl kaum verändert hat.

Der LWL-Gesundheitsdezernent hält auch nichts von einer weiteren Aufstockung der Krankenhauskapazitäten: „Die stationäre Bettenzahl in Westfalen ist schon korrekt. Die Lösung kann nicht sein, dass wir jedes Jahr drei neue Kliniken aus dem Boden stampfen. Ich würde mir stattdessen einen Ausbau bei den Krankenhaus-Ambulanzen wünschen.“ Schließlich hätten die Ambulanzen alle notwendigen Mittel an Bord, um Patienten bedarfsgerecht zu versorgen: Ärzte, Psychotherapeuten, Sozialarbeiter, Pfleger, erklärt Noeker weiter. Diesen Bereich hat der LWL in den vergangenen 30 Jahren immer weiter ausgebaut und ausdifferenziert. Es gibt heute mehr und spezialisiertere Klinik-Ambulanzen.

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Margraf sieht die Fokussierung auf eine langwierige stationäre Behandlung bei psychischen Erkrankungen in Deutschland ebenfalls kritisch. Das zeige auch ein Blick auf die jährlichen Behandlungskosten für psychisch Erkrankte, so der Wissenschaftler: Von den etwa 44,5 Milliarden Euro Gesamtkosten verschlingt die stationäre Behandlung allein 25 Milliarden Euro. Die ambulante Behandlung kommt auf 15 Milliarden Euro, für die Therapie mit Medikamenten werden etwas mehr als drei Milliarden Euro ausgegeben und für die Behandlung bei einem niedergelassenen Psychotherapeuten lediglich 2,5 Milliarden Euro. Margraf plädiert dafür, früher in der Behandlung anzusetzen und ambulant zu therapieren, das wäre auch kostengünstiger. „Dadurch müsste nicht einmal mehr Geld ins System fließen, es müsste lediglich anders verteilt werden“, so Margraf.

Jürgen Bröker, wsp

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