Herrschaftliche Atmosphäre: Die Innenräume der Burg Hülshoff im Münsterland. Foto: Münsterland Tourismus / Philipp Fölting
04.02.2022

„Das Motto lautet: oben bleiben“

Dr. Marcus Stumpf ist Direktor des Westfälischen Adelsarchivs. Im Interview mit dem WESTFALENSPIEEGL erklärt er, warum sich der Adel so lange behaupten konnte.

Herr Dr. Stumpf, was ist „Adel“?
Adel bezeichnet eine gesellschaftliche Schicht, deren Ahnen sich – vereinfacht gesagt – in früherer Zeit in hervorgehobene Positionen gebracht haben. Es ist ein zunächst von außen herangetragenes, dann verinnerlichtes und gelebtes Attribut für Menschen, die zum Beispiel durch Intelligenz, Kraft oder Tüchtigkeit Besitz und Herrschaftsrechte über andere Menschen erworben haben. Ab dem frühen Mittelalter werden diese Menschen zu einer geschlossenen Gruppe, zu einem Stand, der dauerhaft Herrschaft ausübt und Instrumente schafft, um als herrschende Gruppe konstant zu bleiben. 

Archivleiter Marcus Stumph

Archivleiter Marcus Stumpf

Welche Privilegien besaßen Adelige?
Erstmal sind es die Herrschaftsrechte, die zum Teil auch als Lehen verliehen worden sind, und Vorrechte, wie etwa das, in hohe geistliche, weltliche und militärische Ämter berufen zu werden. Dann Gerichtsrechte bis hin zur Blutsgerichtsbarkeit, auch bestimmte wirtschaftliche Monopole wie das Jagdrecht oder das Recht, Korn zu mahlen. Hinzu kamen wirtschaftlich bedeutende Vorrechte, wie etwa das, Münzen zu prägen, und das Vorrecht der Steuerfreiheit. Bedeutend waren aber auch Ehrenrechte, zum Beispiel, dass die herrschaftliche Familie vorne in der Kirche ihre eigene Bank hatte. Zudem hat es der deutsche Adel früh vermocht, sich politische Partizipationsrechte zu verschaffen. Er hat seit dem Mittelalter mitregiert.

Inwiefern hatten Adelige auch Pflichten?
Zunächst einmal sind hier die Pflichten dem eigenen Herrn gegenüber zu nennen, zum Beispiel für den König, insbesondere die militärische Beistandspflicht. Wenn der Herr zum Militärdienst rief, war es die vornehmste und oft sehr kostspielige Pflicht, ihm beizustehen. Pflichten gab es aber genauso gegenüber den eigenen Leuten, den dienstpflichtigen ‚Untertanen‘ im Bereich der Adelsherrschaft: Der Herr hatte eine Schutzverpflichtung gegenüber seinen Leuten, er war verpflichtet, ihnen in der Not beizustehen. Man konnte sich an seinen eigenen Herrn wenden, wenn man zum Beispiel Gewalt Dritter ausgesetzt war. 

Also sind nicht alle Adligen gleichrangig… 
Wir haben drei Klassen: den untitulierten Adel, gelegentlich auch als „Etagen-Adel“ bezeichnet, das sind überwiegend die einfachen „vons“, Menschen, die aufgrund ihrer Verdienste etwa als Beamte im adligen Dienst selbst geadelt worden sind. Die nächste Gruppe repräsentiert der titulierte Adel, also etwa die Freiherren, auch Barone genannt, und die Grafen. Hier sind die Grenzen und Rangunterschiede fließend, denn es gab durchaus Freiherren, die nie danach getrachtet haben, Grafen zu werden, weil z. B. die Standeserhöhung wie der Erwerb eines Grafentitels beim Kaiser sehr viel Geld gekostet hat. Ganz oben steht der Hochadel, die Gruppe der regierenden Häuser, darunter diejenigen Häuser, die zum Teil heute noch immer herrschen wie das dänische oder das englische Königshaus. Es gibt aber auch ehemals herrschende Häuser, die dieser Klasse angehören, zum Beispiel die Prinzen zur Lippe. 

Warum hat sich der Adel über Jahrhunderte so erfolgreich behauptet? 
Über viele Jahrhunderte war der Adel ein sich selbst erhaltendes System: Der Adel hatte die Macht, auch die wirtschaftliche, und ließ nur seinesgleichen in bestimmte Ämter kommen. Man hat untereinander geheiratet, lebte einen repräsentativen Lebensstil, hat diesen auch demonstrativ gezeigt. Ein Schloss zu bewohnen, hat auch eine Wirkung nach außen. Mit diesem quasi demonstrativen Konsum und vor allem dem spezifischen adeligen Habitus grenzte man sich von den anderen Ständen ab. Man aß nicht von Holz-, sondern von Silbertellern. Man ging nicht aus, man ritt aus. All das sind repräsentative Aspekte der Herrschaft. Man erzog die eigenen Kinder in diesem Sinne, bereitete sie auf ein Leben in einer hervorgehobenen Stellung vor, so dass das über die Generationen weitergegeben wurde. Viele Vorrechte sind im 19. Jahrhundert nach und nach abgeschafft worden, 1918 entfielen die Privilegien des Adels dann endgültig.

Das LWL-Archivamt für Westfalen Foto: LWL / Bomholt

Das LWL-Archivamt für Westfalen. Foto: LWL / Bomholt

Warum übt der Adel 100 Jahre später immer noch auf viele Menschen eine große Faszination aus? 
Eine besondere gesellschaftliche Stellung des Adels ist lokal wie auch regional noch vorhanden. Der Graf ist nicht höhergestellt als der Bürgermeister, aber oftmals immer noch auf einer ähnlichen Ebene des gesellschaftlichen und sozialen Prestiges. Und Adlige sind erkennbar: am Siegelring, an der Landhausmode, am selbstbewussten, weltmännischen Habitus. Man versucht, erkennbar anders zu sein und ist es oft auch. Das fasziniert nach wie vor viele Menschen.

Wie leben Adelsfamilien heute?
Wirtschaftliche Betätigung war im Adel früher verpönt, das hat sich geändert. Heute gibt es Familien in Westfalen, die finanziell ausgezeichnet dastehen und zum Beispiel von Waldbesitz, Landwirtschaft oder Immobilienbesitz leben. Es gibt aber natürlich auch Adelige, die keine Schlösser mehr bewohnen, nicht besonders wohlhabend sind und ganz normalen ‚Brotberufen‘ nachgehen. Was alle eint: Der westfälische Adel hält zusammen, man besucht sich, lädt sich zur Jagd ein. Es gibt auch nach wie vor das Bedürfnis, die Kinder möglichst ebenbürtig zu verheiraten. Adelsvereinigungen veranstalten Bälle oder Radtouren wie „Adel auf dem Radel“, wo sich die jungen Menschen untereinander besser kennenlernen sollen. Natürlich heiraten Adlige auch Bürgerliche, aber dennoch ist das Bestreben erkennbar, die Gruppe intakt zu halten. Das Motto lautet „oben bleiben“. 

Interview: Martin Zehren

Gedächtnis der Region
Das LWL-Archivamt betreut in Westfalen-Lippe über 100 Adelsarchive. Deren Urkunden, Akten und Handschriften sind sowohl für die Wissenschaft als auch für die Heimat- und Familienforschung interessant. Marcus Stumpf: „Wer zum Beispiel in Rosendahl auf einem Hof aufgewachsen ist, wird vermutlich zu seinen Ahnen im Gräflichen Archiv Droste zu Vischering Akten dazu finden können, weil der Hof mit in einem Abhängigkeitsverhältnis gestanden haben dürfte. Adelsarchive zeichnet aus, dass sie oft über beeindruckend intakte historische Bestände verfügen, weil fast keine Unterlagen weggekommen sind.“ Im LWL-Archivamt können die Findbücher sämtlicher westfälischer Adelsarchive eingesehen und Archivalien bestellt werden.

Mehr über den Adel in Westfalen lesen sie in Heft 1/2022 des WESTFALENSPIEGEL. Gerne senden wir Ihnen im Rahmen unseres Probeabos kostenlos zwei Ausgaben zu.

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