Das Wunder von Etteln
Fünf Jahre lang waren die Türen der Hausarztpraxis an der Ettelner Kirchstraße verschlossen. Der Allgemeinmediziner Hans-Dieter Bader hatte dort mehr als 25 Jahre lang Patientinnen und Patienten versorgt und war 2020 mit 74 Jahren in den Ruhestand gegangen. Doch er fand niemanden, der seine Praxis mitten im Kreis Paderborn übernehmen wollte. Die Räume mitsamt Rezeption, Regalen und Stühlen im Wartezimmer lagen seitdem in einer Art Dornröschenschlaf. Vielmehr noch war diese Situation für viele Bürgerinnen und Bürger schwierig. Wer krank war oder eine Vorsorgeuntersuchung benötigte, musste viele Kilometer weit fahren. Dieser Missstand ist nun Vergangenheit. Anfang September wurde in den alten Räumen des Mediziners eine Neueröffnung gefeiert. Mit einer Hausarztpraxis, die zwar ohne Hausarzt, aber mit Unterstützung durch Künstliche Intelligenz funktioniert. Betreut wird die „DIHVA-Praxis Etteln“ durch medizinische Fachangestellte, die hier „Digitale hausärztliche Versorgungsassistentinnen“ heißen.
Bei den Untersuchungen kommen Instrumente mit Kamera und digitaler Schnittstelle zum Einsatz; zum Beispiel, wenn es um die Begutachtung des Rachens oder des Trommelfells geht. Die Aufnahmen werden an einen Allgemeinmediziner im nahe gelegenen Bad Wünnenberg überspielt und per Künstlicher Intelligenz ausgewertet. Der Arzt stellt die Diagnose und bespricht mögliche weitere Schritte telefonisch oder in einer Videosprechstunde mit den Patienten. In Zeiten des Ärztemangels gerade in ländlichen Räumen gilt die KI-gestützte Praxis bereits kurz nach ihrem Start als vorbildlich und wird von der Techniker Krankenkasse unterstützt. So können zunächst Versicherte dieser Krankenkasse das Angebot nutzen. Dass die „DIHVA“-Praxis in dem ostwestfälischen Dorf eröffnet hat, ist dabei kein Zufall. Denn Etteln hat sich bereits seit Jahren einen Namen in Sachen Digitalisierung gemacht. Im November 2024 wurde das Dorf im internationalen „IEEE Smart City Contest“ des weltgrößten Ingenieurverbands für Elektrotechnik und Informatik mit dem ersten Preis ausgezeichnet. „Smartester Ort der Welt“ oder „Nur 1750 Seelen, aber besser als Hongkong“ – so lauteten die Schlagzeilen über das kleine Etteln.
„Digitaler Dorfzwilling“
Das Herzstück der digitalen Aktivitäten in Etteln ist der „Digitale Dorfzwilling“ – ein hochpräzises, dreidimensionales Abbild des Ortes, das mit Daten von Messstellen und Sensoren gefüttert wird. Das Modell gibt Auskunft über die Energieversorgung, den Straßenverkehr oder auch den Füllzustand der Altkleidercontainer. Die Plattform unterstützt zum Beispiel bei der Planung von Baustellen oder auch bei der Prävention von Überschwemmungen. Anhand von Daten der Wetterstationen, von Flusspegelständen und zur Geologie lässt sich prognostizieren, welche Straßenzüge bei Starkregen besonders bedroht sind. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Landwirtschaft, Ernährung und Heimat mit 1,3 Millionen Euro gefördert. „Diese gebündelten Informationen haben dazu geführt, dass die Planung für ein Neubaugebiet auf einem hochwassergefährdeten Areal gestoppt wurde“, sagt Ulrich Ahle, Ortsvorsteher von Etteln. Der Ingenieur ist seit vielen Jahren Führungskraft in der IT-Branche und heute Geschäftsführer der europäischen Gaia-X-Initiative in Brüssel. Das Projekt engagiert sich für den Aufbau einer Dateninfrastruktur auf kostenfreier Open-Source-Basis für Europa. In seiner Heimat Etteln ist er verwurzelt und engagiert sich politisch und gesellschaftlich. Er sei ein „digitaler Dorfvorsteher“, sagt Ahle: „Ich kann nicht persönlich zu jedem runden Geburtstag gratulieren, aber ich bin immer erreichbar. Das wird so auch akzeptiert.“

Ortsvorsteher Ulrich Ahle und Christine Wegner, Projektleiterin Digitalisierung bei der Gemeinde Borchen, im Dorfzentrum von Etteln. Im Hintergrund zu sehen ist die digitale Dorfstehle. Foto: A. Kiehl
Etteln ist einer von fünf Ortsteilen von Borchen und liegt im Einzugsbereich der Kreisstadt Paderborn. Bis zum Zentrum der Gemeinde und bis zur nächsten Autobahnauffahrt ist man jedoch einige Kilometer auf der Landstraße unterwegs. In Etteln lebe man „hinter dem Mond“, so hieß es noch vor einigen Jahren, erinnert sich der Ortsvorsteher. Bauplätze wurden nicht nachgefragt, und es gab immer weniger Familien mit Kindern.
Die Initialzündung für den Wandel kam schließlich 2012, als die Grundschule wegen zu geringer Anmeldezahlen geschlossen werden sollte. Der Verein „Etteln aktiv“ gründete sich, um den Ort attraktiver zu machen. Die Ettelner diskutierten fortan nicht nur über Stärken und Schwächen ihres Dorfes, sondern sie packten auch an. In rund 3500 Arbeitsstunden verlegten Bürgerinnen und Bürger selbst Glasfaserleitungen, so dass heute jedes Haus an das schnelle Internet angeschlossen ist. Diese flächendeckende Versorgung bildete den Ausgangspunkt für weitere Aktivitäten. Heute gibt es eine Dorf-App und digitale Dorfstelen, ein elektrisches Leihauto und vor allem ambitionierte Pläne und Projekte: Seit dem Sommer wird die Feuerwehr von Drohnen unterstützt, die im Notfall bereits vor dem Eintreffen der Rettungskräfte am Einsatzort Live-Bilder von der Unglücksstelle liefern. So können zum Beispiel Verletzte geortet, Unfallstellen vermessen oder Informationen zur Ausdehnung eines Brandes geliefert werden. Diese Innovationskraft hat sich herumgesprochen – es gibt wieder mehr Zuzüge und die Grundschule ist dank steigender Anmeldezahlen längst gerettet.
„Digitale Mitfahrbank“
Eine größere „Baustelle“ ist zurzeit das Thema Mobilitätswende. Eine „digitale Mitfahrbank“ in Etteln ergänzt den Busverkehr in die Borchener Ortsteile. Per Knopfdruck oder durch eine Aktivierung per App zeigt das Leuchtsignal die gewünschte Fahrtrichtung an, so dass Autofahrer mit dem selben Ziel halten und Fahrgäste aufnehmen können. Die Krux ist jedoch, dass die Nachbarorte Kirchborchen, Nordborchen, Alfen und Dörenhagen über keine vergleichbare Technologie verfügen. Mitfahrer sind somit auf einer Art Einbahnstraße unterwegs und dementsprechend gering ist die Nutzung. So liegen die Hoffnungen der Ettelner heute auf „NeMo“, einem Mobilitäts-Ökosystem, das unter der Leitung der Universität Paderborn und gemeinsam mit den Gemeinden entwickelt wird. Es sieht vor, dass Fahrgäste an der Haustür von einem autonom gesteuerten Fahrzeug abgeholt werden. Die Kabinen werden an zentralen Orten gekoppelt und steuern Fahrtziele nach Wunsch an. Den ersten „NeMo“-Versuch gab es vor kurzem am Flughafen Paderborn Lippstadt. „Der Fahrkomfort ist vergleichbar mit dem eigenen Auto“, schwärmt der Ettelner Ortsvorsteher und prognostiziert: „In zwei Jahren könnte es erste autonome Fahrten zwischen den Gemeinden geben.“
Etteln denkt also groß. „Die Digitalisierung betrifft nicht nur Großstädte, der ländliche Raum kann hier profitieren. Wir zeigen, wie solche Lösungen in kleinen Orten umgesetzt werden können, sagt Christine Wegner, Projektleiterin Digitalisierung bei der Gemeinde Borchen. Dass all dies in Etteln funktioniert, ist kein Zufall. Die vergleichsweise geringe Einwohnerzahl von aktuell 1750 mache es leichter, Ideen umzusetzen, erzählt sie. Man kennt sich, und das ehrenamtliche Engagement hat Tradition. Auch die Digitalisierung liegt dort in der DNA. Der legendäre Paderborner Computer-Pionier Heinz Nixdorf habe bis zu seinem Tod 1986 zahlreiche IT-Unternehmensgründungen in der Region inspiriert. Von diesem Netzwerk profitiere Etteln heute noch, sagt Ortsvorsteher Ahle und bemerkt: „Heute hinkt Deutschland in Sachen Digitalisierung den führenden Ländern Europas um zehn Jahre hinterher. Aber das Gute ist, dass wir uns die besten Lösungen abgucken und anwenden können für die Herausforderungen, vor denen wir stehen.“
Diesen Artikel und weitere interessante Beiträge lesen Sie in Heft 5/2025 des WESTFALENSPIEGEL mit dem Schwerpunkt Essen und Genießen.
Und was halten die Ettelner selbst von ihrem „digitalen Dorf“? Ulrich Ahle und Christine Wegner berichten, dass sich die Bürgerinnen und Bürger bis auf wenige Ausnahmen an Aktionen beteiligen, zum Beispiel, wenn es um Luftaufnahmen ihrer Grundstücke und Häuser geht. Menschen, die in Sachen Digitalisierung nicht ganz fit sind, erhalten Unterstützung von Digitalpaten, betont der Dorfvorsteher. Dazu biete ein „Mobiler Digitaler Assistenzkoffer“ unter anderem Senioren in Etteln die Möglichkeit, zum Beispiel ein Smartphone praktisch auszuprobieren. Bei der Neueröffnung der Arztpraxis sitzen gleich am ersten Tag die Patientinnen und Patienten im Wartezimmer, um sich von den medizinischen Fachangestellten mit Unterstützung der KI untersuchen zu lassen. Sie freuen sich, dass es wieder eine medizinische Versorgung im Dorf gibt – auch wenn der Arzt einige Kilometer weiter sitzt.
Annette Kiehl