Bald nur noch Nostalgie und musealer Raum: Steinkohle-Zechen im Ruhrgebiet.
18.12.2018

„Der Abschiedsschmerz ist berechtigt“

Dr. Hans-Christoph Seidel ist Geschäftsführer des Instituts für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum. Dort werden Gegenwart und Vergangenheit des Bergbaus erforscht. Im Interview mit „Westfalen heute“ spricht er aus Anlass der Schließung der letzten Zeche in Deutschland an diesem Freitag über Sentimentalitäten, die Kumpelkultur und die Zukunft der eigenen Forschung.

Herr Seidel, nun wird der endgültige Abschied von der Steinkohle gefeiert. Was geht mit dem Bergbau verloren?
Sicher geht ein Stück Kultur für das Ruhrgebiet verloren. Schließlich war mit ihm eine spezifische regionale Prägung verbunden.

Was sind die besonderen Verdienste des Steinkohlenbergbaus?
Zunächst einmal: Die Region Ruhrgebiet würde so ohne den Bergbau nicht existieren. Der Bergbau hat die wirtschaftliche Grundlage für die Industrialisierung nicht nur im Ruhrgebiet, sondern auch in Deutschland und in Europa geliefert. Das ist sicher ein wesentliches Verdienst des Steinkohlenbergbaus. Außerdem hat das Ruhrgebiet einen Strukturwandel seit Ende der 1950er Jahre vollzogen, der sicherlich einzigartig ist.

Ist die Sentimentalität, die dem Abschied anhaftet, also berechtigt?
Ich glaube nicht, dass es eine aufgesetzte Sentimentalität ist. Im Gegenteil: Die Menschen, die im Bergbau gearbeitet haben oder anderweitig mit ihm verbunden sind, fühlen tatsächlich einen Abschiedsschmerz.

Aber wird nicht auch das Negative unter den Teppich gekehrt?
Nun, man neigt ja auch bei anderen Dingen, von denen man sich verabschieden muss, dazu, sich eher an das Positive zu erinnern. Das ist also normal. Aber ich nehme es auch nicht so wahr, dass der Bergbau sich ganz unkritisch sieht.

Was waren denn zum Beispiel negative Seiten?
Es hat in der historischen Entwicklung des Bergbaus erhebliche Probleme gegeben in Bezug auf Arbeitsrechte oder was gesundheitliche Folgen der Arbeit unter Tage angeht. Die Arbeit im Bergbau war über viele Jahre die gefährlichste Tätigkeit in der Industrie. Auch die beiden Weltkriege wären ohne die Kohle in dieser Form nicht möglich gewesen. Dessen ist man sich auch im Bergbau durchaus bewusst.

Vieles hat man auch über die besondere Kumpelkultur im Ruhrgebiet gehört – können Sie diese einmal erklären?
Mit dem Begriff Kumpelkultur werden verschiedene Dinge assoziiert. Zum Beispiel ein besonders solidarisches Verhalten. Auch das Thema Mitbestimmung oder Verlässlichkeit, ebenso Toleranz und Direktheit. Alles Eigenschaften, die unter Tage wichtig waren und die für viele Menschen im Ruhrgebiet typisch sind.

Geht das verloren, wenn es den Bergbau nicht mehr gibt?
Nein, das denke ich nicht. Im Ruhrgebiet ist der Bergbau ja schon seit mehr als 50 Jahren auf dem Rückzug. Dennoch spielen diese Werte immer noch eine große Rolle, vielleicht sogar mehr als zuvor. Ein Beispiel für die Aktualität der Kumpelkultur ist sicher auch die Art und Weise, wie der Bergbau jetzt im Ruhrgebiet verabschiedet wird. Viele Menschen fühlen sich den Kumpeln solidarisch verbunden und zeigen das auch.

Abschied bedeutet auch immer Neuanfang – welche Chancen eröffnen sich nun dem Ruhrgebiet?
Das ist ein Prozess, der sich ja längst vollzieht: Die Städte im südlichen Ruhrgebiet haben den Strukturwandel größtenteils schon hinter sich. Bochum zum Beispiel war einmal die größte Bergbaustadt Europas. Die letzte Zeche ist hier aber schon vor 45 Jahren geschlossen worden, auch in Dortmund ist das letzte Stück Kohle vor mehr als 30 Jahren zu Tage gefördert worden. Diese Städte haben natürlich einen gewissen Vorlauf in Sachen Strukturwandel und dadurch sicher auch einen Vorteil gegenüber anderen Städten. Nehmen Sie Bochum, hier hat sich Opel angesiedelt, auch die Ruhr-Universität. Damit wurde der Strukturwandel auf den Weg gebracht.

Ist es jetzt dennoch eine Zäsur, wenn in Bottrop die letzte Zeche schließt?
Das ist sicher emotional ein tiefer Einschnitt. Aber wirtschaftlich oder sozial ist das keine Zäsur mehr. Prosper-Haniel hat momentan vielleicht noch 1400 Beschäftigte, von denen wird der große Teil in den Vorruhestand gehen. Einige bleiben im Unternehmen und wickeln den Bergbau weiter ab. Individuell ist das für die Betroffenen sicher noch ein Einschnitt. Strukturell sind die Folgen aber nicht mehr tiefgreifend.

Wagen Sie einen Blick in die Glaskugel – welche Rolle spielt der Bergbau in zehn oder 20 Jahren noch für die Menschen im Ruhrgebiet?
Das ist schwer zu sagen, aber ich glaube nicht, dass das Thema dann aus den Köpfen der Menschen verschwunden ist. Dafür hat der Bergbau im Übrigen ja auch selbst vorgesorgt. Zum Beispiel durch die Industriekultur und auch das Deutsche Bergbaumuseum, diese sichern das historische Erbe des Bergbaus.

Wird die Bergbauforschung an Ihrem Institut weitergehen?
Ja, sicherlich. Wir beschäftigen uns intensiv mit der Gegenwart und der Vergangenheit des Bergbaus. Die Gegenwart wird jetzt verschwinden, aber in der Vergangenheit gibt es noch genug zu erforschen.

Nämlich?
Wir forschen seit längerer Zeit zum Thema „Menschen im Bergbau“. In diesem Projekt wurden lebensgeschichtliche Interviews mit Menschen, die im Bergbau gearbeitet haben oder sehr eng mit ihm verbunden waren, geführt. Dabei sind Videos entstanden, die so etwas wie das Gedächtnis des Steinkohlenbergbaus sind. Diese Interviews werten wir wissenschaftlich aus. Zusätzlich planen wir auch, das Material so aufzubereiten, dass es auch in der Bildungsarbeit mit Jugendlichen eingesetzt werden kann. Sie sehen, die Themen sind uns lange noch nicht ausgegangen.

Das Gespräch führte Jürgen Bröker.

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