Firmensitz der Gerry Weber International AG ist Halle/Westfalen. Foto: Gerry Weber AG
02.12.2019

Der Fall Gerry Weber

Noch vor wenigen Jahren galt Gerry Weber als Vorzeigeunternehmen der deutschen Textilindustrie. Heute ist der Name vor allem mit der Firmeninsolvenz verknüpft. Der heute 78-jährige Gründer und Namensgeber Gerhard Weber darf nicht mehr mitreden.

Ausgangspunkt der Firmengeschichte ist Versmold, wo Weber Mitte der 1960er Jahre ein kleines Bekleidungsgeschäft eröffnete. In den 1970er und 80er Jahren baute er in Halle/Westfalen einen Modekonzern auf. 1986 kam die erste Kollektion unter dem Namen „Gerry Weber“ auf den Markt und Tennisstar Steffi Graf sorgte als Werbebotschafterin für internationale Aufmerksamkeit. Die Mode, die unter der Regie des Inhabers entstand, galt als tragbar und nicht zu extravagant. Man habe sich im Bereich der Kleidung für Frauen ab 30 eine Alleinstellung im Markt erarbeitet, sagte Weber 2007 im WESTFALENSPIEGEL stolz.

Wachstumsstrategie scheiterte

Der Erfolg kannte für ihn kaum Grenzen: 2012 gab der Vorstandschef die erste Umsatzmilliarde als Konzernziel aus. Um das zu erreichen, setzte der Familienkonzern auf Wachstum: Die Modekette Hallhuber kam unter das Dach von Gerry Weber, 200 Filialen des insolventen Konkurrenten Wissmach wurden übernommen. Die Eröffnung eines eigenen Ladens mitten in New York war im Gespräch und Rockstar Bryan Adams fotografierte dort für den Konzern eine „NY Kollektion“.

Heute sprechen Branchenexperten angesichts dieser Entwicklung von einem Größenwahn Webers, doch vor ein paar Jahren noch wurde er mit Preisen für sein Lebenswerk geehrt. Zum Verhängnis wurde ihm schließlich der Bau eines 90 Millionen Euro teuren Logistikzentrums am Firmensitz. Es sollte den Umschlag von 30 Millionen Kleidungsstücken pro Jahr ermöglichen und das Rückgrat der Expansion bilden. Einige Monate vor der Eröffnung im Dezember 2015 gab es jedoch bereits negative Nachrichten: „Gerry Weber kann sich der negativen Marktentwicklung in der Modebranche nicht vollständig entziehen“, hieß es damals in Konzernmitteilung.

150 Filialen schließen

In den folgenden Jahren erreichten weder Sparprogramme noch Wachstumsprojekte die Wende. Firmenpatriarch Gerhard Weber war inzwischen aus dem Geschäft ausgestiegen, sein Sohn Ralf konnte sich als Vorstandschef aber nicht durchsetzen und wechselte in den Aufsichtsrat. Stellenabbau, Stundung von Darlehen, Fehlbeträge am Jahresende: Die Negativnachrichten aus Halle wurden immer deutlicher. Der Start einer neuen Online-Modemarke („GR[8]FUL“) im Februar 2018 erscheint im Rückblick als verzweifelter Rettungsversuch. Schließlich wird am 1. April 2019 die Eröffnung des Insolvenzverfahrens angeordnet. 150 Filialen werden als Konsequenz geschlossen, darunter auch das Geschäft in Versmold.

Das Model Milva Spina ist Star der aktuellen Gerry-Weber-Kampagne. Foto: Gerry Weber AG

Das Model Milva Spina ist Star der aktuellen Gerry-Weber-Kampagne. Foto: Gerry Weber AG

Die Geschichte der Gerry Weber International AG geht nun ohne die Gründerfamilie weiter, informierte der Konzern vor kurzem knapp. Amerikanisch-britische Investmentgesellschaften sind die neuen Eigentümer. Schlanke Strukturen und ein modernes Management sollen das Geschäft wieder auf Kurs bringen. Zielgruppe der Modemarke Gerry Weber sind heute Frauen über 50, „die ihren eigenen Stil gefunden haben und nicht jeden Trend mitmachen“, formuliert es das Unternehmen. Der Star der Herbst-Kampagne ist ein sogenanntes „Best-Ager-Model“, das selbstbewusst graues Haar zeigt.

Annette Kiehl / wsp

Dieser Artikel ist im WESTFALENSPIEGEL 06/2019 erschienen. Mehr zum Thema „Modeindustrie in der Krise“ lesen Sie hier.

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