Prunkstück in der Dauerausstellung im Museum Kalkriese ist die Nachbildung einer römischen Maske   Foto: Varusschlacht im Osnabrücker Land/Hermann Pentermann 
21.07.2022

Der Fingerabdruck des Varus

Beitrag aus dem WESTFALENSPIEGEL-Archiv: Wo hat die legendäre Schlacht im Teutoburger Wald denn nun stattgefunden? Ein neues wissenschaftliches Verfahren soll die Lösung des Rätsels einen großen Schritt voranbringen. 

Im Jahr 9 nach Christus erlitt das römische Heer eine seiner schwersten Niederlagen: Germanische Stämme unter dem Cherusker Arminius besiegten im Teutoburger Wald drei römische Legionen mit 15.000 Soldaten unter dem Feldherrn Varus. Die verheerende Niederlage bedeutete das Ende der römischen Expansion ins rechtsrheinische Germanien, also auch nach Westfalen.

In Kalkriese im Osnabrücker Land wird seit mehr als 30 Jahren ein archäologischer Fundort erforscht, an dem ein schwerer Kampf zwischen Römern und Germanen stattgefunden hat. War es die Varusschlacht? Viele Forscherinnen und Forscher nehmen das an. Andere dagegen argumentieren, dass sich in Kalkriese vielmehr die für die Römer ebenfalls sehr verlustreiche Schlacht an den „langen Brücken“ zwischen Germanicus und Arminius im Jahr 15 n. Chr. ereignet haben könnte. Ein Forschungsprojekt des Museums und Parks Kalkriese, der Münchener Ludwig-Maximilian-Universität und des Deutschen Bergbau-Museums Bochum geht dieser Frage seit fünf Jahren mit großem Aufwand nach – im Frühherbst wollen die Projektpartner Ergebnisse präsentieren. Das Besondere des Projekts: Keine Historikerin oder Archäologin, sondern die Bochumer Chemie-Doktorandin Annika Diekmann soll helfen, das Rätsel zu lösen, welche römischen Legionäre in Kalkriese ums Leben kamen: Waren es Soldaten von Varus oder von Germanicus?

Monatelange Analyse

Annika Diekmann fuhr zu mehreren Museen, die nahe archäologischer Fundstellen die Objekte römischer Legionen aufbewahren – nach Kalkriese, Haltern am See, Xanten, Neuss, ins badische Dangstetten, ins elsässische Biesheim und ins schweizerische Windisch. Dort bohrte sie minimale Löcher in römische Fundstücke aus Kupfer. „Gürtelschnallen, Schuhnägel, Riemenlaschen, Fibeln oder Jochbeschläge“, zählt Diekmann auf. So entnahm sie winzige Metallspäne, „jeweils 20 bis 25 Milligramm“, sagt sie. „Über 300 Proben waren es allein in Kalkriese.“ Diese Proben aus den verschiedenen Museen lassen sich drei unterschiedlichen Gruppen römischer Legionen zuordnen: Die eine Gruppe wurde in der Varusschlacht 9. n. Chr. besiegt, die zweite hat bei den Germanicus-Feldzügen an der Schlacht bei den langen Brücken teilgenommen und die dritte war in jenen Jahren weiter südlich am Rhein im Einsatz.

Die Chemikerin Annika Diekmann bei ihrer Forschungsarbeit in Bochum   Foto: Seda Karaoglu

Die Chemikerin Annika Diekmann bei ihrer Forschungsarbeit in Bochum. Foto: Seda Karaoglu

Ihre Metallproben hat Annika Diekmann im Forschungsbereich Materialkunde des Bergbau-Museums monatelang analysiert. Mit unterschiedlichen Technologien und Methoden – von der Auflösung der Metallspäne in ihre einzelnen Bestandteile im Säurebad bis zur Analyse mit Hilfe eines Massenspektrometers. Die 32-jährige Bochumerin will so die chemische Zusammensetzung der Metallproben herausfinden, zum Beispiel den genauen Anteil von Blei, Kupfer, Zink oder Zinn, aber auch der Spurenelemente wie Nickel, Kobalt oder Antimon. „So kann ich metallurgische Fingerabdrücke erkennen“, erklärt sie.

Auswertung läuft

Diekmann hat die Laborarbeiten mittlerweile abgeschlossen und mit der komplexen Auswertung der Daten begonnen. Und jetzt wird’s richtig spannend: Sie vergleicht nun den metallurgischen Fingerabdruck der gefallenen römischen Truppen in Kalkriese mit dem von bekannten Objekten römischer Legionen. So auch die der 19. Legion, die im Römerlager im heutigen Haltern an der Lippe stationiert war. „Damit hätten wir erstmals auch ohne schriftliche Belege die Möglichkeit, einzelne Legionen vor Ort zu identifizieren“, hofft Projektleiter Dr. Stefan Burmeister, Geschäftsführer der „Varusschlacht im Osnabrücker Land gGmbH – Museum und Park Kalkriese“.

„Untersuchungen an römischen Funden aus England und Kalkriese lassen vermuten, dass die einzelnen römischen Legionen einen eigenen sogenannten metallurgischen Fingerabdruck hatten“, erklärt Burmeister. „Jede Legion hatte ihre eigene Schmiede, in der sie ihre Ausrüstung reparierte oder fehlende Teile ergänzte. Durch individuelle Techniken und ein eigenes Reservoir an Werkstoffen erhielten die hier gefertigten Teile eine ganz eigene Signatur. Spurenelemente und ihre spezifische Zusammensetzung können so einen metallurgischen Fingerabdruck preisgeben.“

Einfach Probelesen

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Wenn dieser Fingerabdruck der Artefakte aus Kalkriese dem der 19. Legion aus Haltern gleicht, wäre dies ein starkes Indiz, dass die 19. Legion in Kalkriese gewesen sein muss. „In der Germanicus-Zeit hat es die 19. Legion nicht mehr gegeben, daher kann man die Schlacht an den langen Brücken ausschließen“, sagt Stefan Burmeister. Die Wahrscheinlichkeit, dass in Kalkriese die Varusschlacht stattgefunden hat, würde sich dann erhöhen.

Projekt vor dem Abschluss

Und was wäre, wenn Annika Diekmanns Untersuchungen zu einem anderen Ergebnis kommen? „Wenn man eine metallurgische Übereinstimmung der Kalkriese- und Germanicus-Legionsobjekte findet, würden wir sagen: So eindeutig ist es hier mit der Varusschlacht in Kalkriese nicht mehr“, stellt Stefan Burmeister klar. Dann hänge es von der Menge an Übereinstimmungen ab: „Einzelne Stücke kann man relativieren, weil Germanicus mit seinen Legionen später am Ort der Varusschlacht gewesen ist.“ Sollten jedoch alle Kalkriese-Fundstücke nur den Germanicus-Legionen zuzuordnen sein, „dann müssen wir der Wahrheit ins Gesicht blicken“, sagt Burmeister, dessen Kalkrieser Museum die Varusschlacht seit vielen Jahren im Namen trägt, „und damit umgehen.“

Für Annika Diekmann in Bochum geht mit dem Abschluss des Projekts auch die Zeit ihrer Doktorarbeit dem Ende zu. Als sie 2017 mit ihrer Forschungsarbeit loslegte, kannte sie die Geschehnisse der Varusschlacht nur vage aus der Schule. Mittlerweile hat sie das Thema gepackt: „Anhand der Daten können wir wohl noch viele Jahre Forschung betreiben. Wenn es ein Folgeprojekt geben würde, wäre ich sofort dabei.“

Martin Zehren

Streit um den Schlachtort dauert an

Im Kloster Corvey bei Höxter wurde Anfang des 16. Jahrhunderts ein Teil der „Annalen“ des römischen Historikers Tacitus wiederentdeckt, in der er über die verlorene Schlacht der Legionen des Varus gegen die Germanen berichtet. Geschichtswissenschaftler, Hobbyhistoriker und Heimatforscher streiten seitdem darüber, wo das symbolträchtige Ereignis stattgefunden hat. Es gibt mehrere hundert Spekulationen und Theorien zum möglichen Schlachtort, darunter das Wiehen- und Wesergebirge, das Lipperland und das östliche Münsterland, aber auch die Gegend um Hildesheim und der Tautenburger Wald bei Jena.

Seit Ende der 1980er Jahre haben Ausgrabungen in Kalkriese bei Bramsche ein antikes Schlachtfeld freigelegt, auf dem sich Römer und Germanen heftige Kämpfe lieferten. Manches spricht dafür, dass hier die Varusschlacht stattgefunden hat, doch die Forschung ist sich weiterhin uneins. Gut begründete Argumente führen sowohl die Befürworter als auch die Gegner ins Feld. Die archäologischen Funde haben keine jahrgenaue Datierung ergeben. Das aktuelle Forschungsprojekt über die chemische Zusammensetzung der Fundstücke aus Kalkriese könnte nun bald neue Bewegung in die jahrhundertelange Kontroverse bringen.

Dieser Beitrag stammt aus Heft 3/2022 des WESTFALENSPIEGEL. Ihnen gefällt, was Sie hier lesen? Gerne senden wir Ihnen im Rahmen unseres Probeabos zwei kostenlose Ausgaben zu. Hier geht’s zum Probeabo.

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