Der Geschichtenerzähler
Scherenschnittartige Figuren, Animationsfilme als begehbare Rauminstallationen, Zeichnungen in schwarz-weiß: Im Museum Folkwang in Essen sind Arbeiten des südafrikanischen Künstlers William Kentridge zu sehen.
Es beginnt immer mit einer Linie – und daraus entstehen ganze Welten. William Kentridge arbeitet stets von der Zeichnung aus, seine Werke füllen ganze Räume. Bekannt wurde er in den 1980er Jahren mit animierten Kohlezeichnungen, in denen er die brutale Geschichte seiner südafrikanischen Heimat während der Apartheid aufarbeitet. Heute ist Kentridge ein Weltstar. Anlässlich seines 70. Geburtstages widmen ihm das Folkwang Museum in Essen und die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden jetzt eine große Doppelausstellung: „Listen to the Echo“ (Lausche auf das Echo). Während in Dresden an gleich drei Orten (Albertinum, Kupferstich-Kabinett, Puppentheatersammlung) seine Arbeiten gezeigt werden, und hier u.a. die an mittelalterliche Totentänze erinnernden Fürstenzüge und Prozessionen im Mittelpunkt stehen, ist im Essener Folkwang Museum mit rund 160 Exponaten eine Art Retrospektive zu sehen. „Es sind Arbeiten aus 50 Jahren, das ist schockierend“, so William Kentridge gutgelaunt kurz vor der Eröffnung.

Zu sehen im Museum Folkwang in Essen: William Kentridge: „Drawing for Self-Portrait as a Coffee-Pot (2 Private Thoughts)“, 2021. Foto: Thys Dullaart © William Kentridge, 2025
William Kentridge, 1955 geboren, stammt aus einer wohlhabenden jüdischen Familie in Johannesburg, wo er bis heute lebt. Sein Urgroßvater floh Ende des 19. Jahrhunderts vor drohenden Pogromen aus Litauen nach Südafrika. Seine Eltern waren renommierte Anti-Apartheid-Anwälte, sein Vater Sidney verteidigte in den 1950er und 60er Jahren die schwarzen Widerstandskämpfer um Nelson Mandela. Diesen Kampf um Gerechtigkeit führt der Sohn in seiner Kunst fort. „Die Themen sind ähnlich. Es geht um ein grundsätzliches Interesse an der Welt und unsere Verantwortung dafür. Um Privilegien und was in der Welt möglich ist“, sagt er. William Kentridge erzählt Geschichten. Meist in schwarz-weiß. Über Rassismus, Ausbeutung und Unterdrückung in repressiven Regimen, über soziale und politische Ungerechtigkeiten, zerstörerische Gewalterfahrungen, Krieg und Vertreibung, Armut und Flucht, über Gemeinschaft und Menschlichkeit. Dabei hat er originelle Ideen, verbindet schwere Themen mit starkem Humor. Das Spektrum seines künstlerischen Schaffens reicht von Kohle-Zeichnungen über Animationsfilme, Raum-Installationen bis hin zu Großprojektionen wie die Filmarbeit „More Sweetly Play the Dance“, die 2015/16 für die von Peter Weibel kuratierte „Lichtsicht“-Projektions-Biennale in Bad Rothenfelde entstanden ist. Die Spuren der Entstehung seiner Werke sind dabei deutlich zu sehen.
Die Kraft der Zeichnung
Kentridge zeichnet, radiert, überzeichnet, wischt weg, beginnt neu. Seine Animationsfilme entstehen aus Kohle-Zeichnungen, die er im Prozess verändert. Ausradierte Stellen bleiben sichtbar, die Anschlüsse sind nicht immer passgenau. Bei ihm lernen die Bilder, eins nach dem anderen gezeichnet und einzeln abfotografiert, wie beim Daumenkino das Laufen. Er zeichne „Gedächtnisspuren“ nach, so hat er es einmal formuliert und seine Technik als „steinzeitliches Filmemachen“ beschrieben. Auf geradezu magische Weise lässt Kentridge dabei Reales und Fiktion, Geschichte und Mythen verschmelzen. Er setzt sich kritisch mit der Vergangenheit und Gegenwart Afrikas, vor allem seiner Heimat Südafrika, auseinander. Im Triptychon „The Conservation’s Ball“ (Der Ball der Naturschützer) karikiert er 1985 die südafrikanische weiße Oberschicht, die sich im feinen Frack, Abendkleid und Pelzmantel, amüsiert, wobei ein Nashorn als Tischschmuck dient. In „Drawings for Protection“, entstanden zwischen 1991 und 2020, geht es um die Geschichte von Johannesburg als Stadt, die ihre Existenz dem Bergbau verdankt – ein verbindendes Element mit dem Ruhrgebiet. Hier die Kohle, dort das Gold. „Kaboom“, eine Bildcollage aus historischen Dokumenten, Zeichnungen und Texten, erinnert an die rund 1,5 Millionen afrikanischen Lastenträger – Männer, Frauen und Kinder –, die während des Ersten Weltkriegs von europäischen Kolonialmächten rekrutiert wurden. Auch für Kentridges Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte gibt es in Essen einen direkten Anknüpfungspunkt; im Essener Baedeker-Verlag wurde einst das „Jahrbuch über die deutschen Kolonien“ herausgegeben.

William Kentridge im Museum Folkwang in Essen. Foto: Sebastian Drüen, Museum Folkwang, Sebastian Drüen
Ein gewaltiger Wandteppich zeigt ein vollbesetztes Boot auf einer Landkarte, und man denkt sofort an Flüchtlinge im Mittelmeer. Tatsächlich aber handelt es sich bei der Szene um die Überschwemmung des Tiber in Rom im Jahr 1937. In dem Film „To Cross One More Sea” (2024) erzählt Kentridge von Menschen, die im Frühjahr 1941 vor den Nazis geflohen sind. Über 350 Menschen waren an Bord eines Schiffs von Marseille nach Martinique, darunter André Breton, Anna Seghers und Germaine Krull. In einer Video-Rauminstallation lässt Kentridge bei ruppigem Seegang die Tassen, Kannen und Teller einer Kaffeetafel lustig hin und her rutschen – bis daraus ein wahres Tänzchen wird. Das ist unterhaltsam und witzig-skurril, lässt aber niemals an der Ernsthaftigkeit des Themas zweifeln. Man staunt darüber, wie der Künstler es schafft, Tragik und Humor mit einer derartigen Leichtigkeit miteinander zu verbinden. Eines der eindrücklichsten Werke in Essen beschäftigt sich mit einem der dunkelsten Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte. „Black Box/ Chambre Noir“ (2005) hat Kentridge sein vor 20 Jahren entworfenes mechanisches Miniaturheater genannt; 20 Minuten Zeit sollte man einplanen. Die Installation besteht aus einer altmodischen Guckkastenbühne, auf der sich immer etwas bewegt. Pappkulissen werden herein- oder herausgeschoben, bizarre Figuren erscheinen und verschwinden, es passieren immer größere Katastrophen, deren Grausamkeit sich erst auf den zweiten Blick offenbart. Thema ist der Völkermord, den deutsche Truppen an den Herero und Nama 1904 bis 1908 im damaligen Deutsch-Südwestafrika (dem heutigen Namibia) verübten. Dazu erklingt, experimentell verfremdet, die Arie des Sarastro aus Mozarts „Zauberflöte“ zu den Bildern einer Großwildjagd. Allein die „Black Box“ lohnt die Anreise nach Essen. Die Miniaturbühne voller Bilder wider das Vergessen ist nur ganz selten zu sehen, wie Kurator Tobias Burg deutlich macht: „Es gibt nur 2 Exemplare, die so gut wie nie entliehen werden, weil sie in ihrer Ausstattung und Mechanik so empfindlich sind“. Das Exponat in Essen stammt aus dem Kunstmuseum Louisiana nördlich von Kopenhagen.
Diesen Artikel und weitere interessante Beiträge lesen Sie in Heft 5/2025 des WESTFALENSPIEGEL mit dem Schwerpunkt Essen und Genießen.
Wie so oft geht bei Kentridge der Schrecken mit der Groteske einher. In einer Mischung aus Elementen von Graphic Novel, Dokumentar-, Puppen- und satirischem Volkstheater mit Gesang lässt erdie Figur des korrupten und sadistischen König Ubu, den der Dadaist Alfred Jarry erfunden hat, in der Wahrheitskommission zur Aufklärung der Verbrechen der Apartheid auftreten, zeigt ihn aber auch als Folterer in einem Gefängnis – Sinnbild für die Erbarmungslosigkeit des Apartheidregimes. In der während der Corona-Pandemie entstandenen Filmreihe „Self-Portrait as a Coffee-Pot“ führt Kentridge Gespräche mit seinem Doppelgänger über die Bedeutung von Schicksal und Zufall, die Sinnhaftigkeit von Kunst und die Arbeit im Atelier. Nicht selten widersprechen sich die beiden. Und manches Mal tritt der Künstler auch drei- bis viermal zugleich in Erscheinung. Was für eine Idee! Wer sich darauf einlässt, erlebt keine fertigen Antworten, sondern kluge Fragen, überraschende Antworten, poetische Bilder und interessante, neue Blicke auf die Welt.
Klaudia Sluka