"Was für ein Vertrauen" lautet das Motto des Deutschen Evangelischen Kirchentags in Dortmund. Foto: Schütze
13.06.2019

„Der Kirchentag ist ein nachhaltiger Event“

Prof. Dr. Christian Grethlein von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster über den Kirchentag, der am Mittwoch (19. Juni) in Dortmund beginnt. 

Herr Prof. Grethlein, das Motto des Kirchentags lautet „Was für ein Vertrauen“ – ist das gut gewählt?
Auf jeden Fall. Ich habe immer noch eine Schlagzeile der New York Times aus der Zeit der letzten großen Wirtschaftskrise vor Augen. Damals ging die Bank Lehman Brothers pleite und die Zeitung titelte „No Faith“, also „Kein Vertrauen“. Genau darum ging es. Im Grunde genommen gilt das für die politische und wirtschaftliche Stimmung der vergangenen Jahre: Wir haben kein Vertrauen. Deshalb ist es gut, wenn der Kirchentag das Vertrauen zum Zentrum der Veranstaltung macht.

Welche Impulse kann ein Kirchentag für die Kirche in Westfalen geben?
Er kann die Kirche für das ambulante Christentum öffnen.

Das müssen Sie erklären.
Wir unterscheiden zwischen stationärem und ambulantem Christentum. Mit stationär sind die Menschen gemeint, die in einer festen Ortsgemeinde angedockt sind, die dort zum Gottesdienst gehen und so weiter. Und unter dem Begriff ambulantes Christentum fasst man die Menschen zusammen, die in für sie biografisch wichtigen Lebenslagen sozusagen bei Kirchens vorbeischauen, um sich dort eine gewisse Stärkung zu holen.

Wie ist es zu erklären, dass beim Kirchentag 100.000 und mehr Besucher erwartet werden, die Menschen aber weiter aus der Kirche austreten?
Der Kirchentag mobilisiert auf jeden Fall viele Menschen, die nur bei dieser Veranstaltung Kontakt zur Kirche haben. Die also alle zwei Jahre dorthin fahren, sich Anregungen und Stärkung holen, und denen das dann wieder für zwei Jahre genügt.

Prof. Dr. Christian Grethlein. Foto: WWU/Laura Grahn

Prof. Dr. Christian Grethlein. Foto: WWU/Laura Grahn

Weshalb gelingt der Kirche keine dauerhafte Bindung dieser Menschen?
Die heutige institutionelle Kirche hat eine bestimmte Organisationsform, deren Bedeutung allgemein zurückgeht. Das ist aber kein Problem, das die Kirche exklusiv hat. Auch andere Großinstitutionen wie Gewerkschaften und Parteien verlieren an Bedeutung. Es gewinnen Netzwerke an Gewicht, in denen Menschen für ihr Leben Anregungen bekommen. Und da ist der Kirchentag eine gute Form – er ist ein nachhaltiger Event. Das ist eine Kommunikationsform, die den Menschen heute, vor allem auch jüngeren, sehr gut vertraut ist. Veranstaltungen im Wochenrhythmus sind dagegen weniger angesagt.

Ist das die Erklärung dafür, warum die Gottesdienste am Sonntag in den Kirchen immer weniger besucht werden?
Die leeren Kirchen am Sonntag sind ja nur die eine Seite. Wir haben auch Gottesdienste, die immer voller werden. Der bekannteste ist der Heiligabend-Gottesdienst. Da sind die Teilnehmerzahlen in den vergangenen 30 Jahren um fast ein Drittel gestiegen. Wir sehen also dort, wo sich die Logik der Kirche mit der Logik der Menschen, mit ihren Lebensumständen verbindet, einen Zuwachs. Häufig in Verbindung mit Familien. Das gilt zum Beispiel auch für Beerdigungen und Taufen, aber auch für die Schulanfänger-Gottesdienste.

Wie wichtig ist der Kirchentag für die Kirche in Westfalen?
Das ist schwer zu sagen. Die Kirche in Westfalen ist ja sehr uneinheitlich. Wir haben ländliche Regionen in Ostwestfalen und sehr städtisch geprägte Gebiete im Ruhrgebiet. Interessant könnte aber sein, dass Menschen aus diesen unterschiedlichen Regionen beim Kirchentag zusammenkommen und sich so neue Netzwerke bilden können. Aber ansonsten muss man schon sagen, dass der Kirchentag in einer anderen Liga spielt. Dort werden weniger regionale Themen diskutiert. Es geht um umfassendere Dinge, die bundesweit Strahlkraft haben, teilweise sogar international, wie man auch an der Gästeliste sehen kann.

Mehr als 2000 Veranstaltungen warten auf die Gäste – wie soll man denn da durchblicken?
Es stimmt, das ist eine Menge. Aber jeder kann sich aus den Veranstaltungen ja seinen eigenen Kirchentag gestalten. Niemandem wird vorgeschrieben, was er machen muss. Das ist – wenn Sie so wollen – urprotestantisch. Mir gefällt das sehr.

Interview: Jürgen Bröker

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