Die Olympischen Ringe. Foto: Pixabay
22.07.2021

„Die Athlet:innen sichern dem IOC sein Produkt“

Dagmar Freitag ist Vorsitzende des Sportausschusses im Deutschen Bundestag. Im Interview übt die Iserlohnerin deutliche Kritik an der Durchführung der Olympischen Spiele durch das Internationale Olympische Komitee (IOC) in Tokio.  

Das IOC hält trotz massiver Kritik an der Durchführung der Spiele in Tokio fest. Ist das aus Ihrer Sicht eine nachvollziehbare Entscheidung?
Nein, diese Entscheidung ist aus meiner Sicht in erster Linie den wirtschaftlichen Interessen des IOC, aber auch der internationalen Sportverbände geschuldet. Sie sowie die Nationalen Olympischen und Paralympischen Komitees sind die Profiteure Olympischer und Paralympischer Spiele. Kein Zweifel, es gibt klare Vorschriften zu einer möglichst guten Sicherstellung einer „Blase“, um die Ausbreitung von Corona-Infektionen zu verhindern. Aber schon jetzt gibt es erste Corona-Infektionen im Olympischen Dorf, und dabei sind ja bei weitem noch nicht alle Athlet:innen und Betreuer:innen in Tokio angekommen. Und wir wissen von früheren Sportereignissen unter pandemiebedingten Voraussetzungen, dass besagte Vorschriften vielfach dann eben doch nur auf dem Papier standen. Wir werden abwarten müssen, was aus den „sicheren Spielen“, die von Thomas Bach und seinem Vize John Coates immer wieder beschworen werden, am Ende übrig bleibt. Man darf auch nicht außer Acht lassen, dass wenige Wochen nach Ende der Olympischen Spiele erneut Zehntausende Menschen im Rahmen der Paralympics nach Tokio strömen werden und die Corona-Situation erneut verschärfen können. Die Bevölkerung Japans lehnt die Spiele bekanntlich mehrheitlich ab, was angesichts steigender Infektionszahlen, der schwachen Impfquote in Japan und eines nicht besonders leistungsstarken Gesundheitssystems mehr als nachvollziehbar ist.

Die Argumentation des IOC-Präsidenten Thomas Bach ist: Man wolle den Athletinnen und Athleten eine Bühne für ihre sportlichen Leistungen bieten. Ist es wirklich eine Entscheidung im Sinne der Sportler?
Ich weiß aus vielen Gesprächen mit Athlet:innen, dass die Teilnahme an Olympischen oder Paralympischen Spielen ein Lebenstraum ist. Und nicht wenige schaffen nur einmal im Leben die Qualifikation dafür. Insofern habe ich großes Verständnis für alle, die selbst unter diesen Bedingungen ihren Traum in Tokio wahr werden lassen wollen. Dass diese Spiele jedoch alles andere als eine echte Bühne für die Sportler:innen sein werden, ist mittlerweile jedem klar. Coronabedingt gibt es leere Stadien, die Beschallung in Stadien und Sportstätten kommt aus der Konserve der letzten Spiele von Rio, es gibt keinen entspannten interkulturellen Austausch im Olympischen Dorf, keinen Kontakt zur Bevölkerung, keine Möglichkeit, das Land nach den Spielen noch touristisch zu erkunden. Die Athlet:innen sichern dem IOC sein Produkt Olympische Spiele und die daraus resultierenden Finanzflüsse.

Dagmar Freitag. Foto: Die Hoffotografen

Dagmar Freitag. Foto: Die Hoffotografen

Angesichts wieder steigender Inzidenzen auch bei uns – geht von den Spielen da das richtige Signal für Nachwuchs- und Breitensportler aus?
Diese Frage stellt sich nicht erst jetzt, so kurz vor dem Beginn der Olympischen Spiele. Im Gegenteil, ich habe seit März letzten Jahres unzählige Anfragen und auch Beschwerden aus den Vereinen vor Ort bekommen, die teils ungläubig verfolgten, was insbesondere in den Mannschaftssportarten auf Profi-Niveau trotz Corona möglich war. Fairerweise muss man aber sagen, dass da die Hygieneblasen weitgehend funktioniert haben, von einigen allerdings unrühmlichen Ausreißern abgesehen. Nur: solche Konzepte konnte sich kein kleiner Verein leisten, weder finanziell noch personell. Ich hoffe sehr, dass mit der weitestgehenden Durchimpfung der vulnerablen Gruppen auch das größte Risiko vorerst eingedämmt ist. Dennoch müssen wir – auch angesichts der grassierenden Virusvarianten und einer erkennbar steigenden Impfmüdigkeit in der Bevölkerung – weiter vorsichtig bleiben. Der Vereinssport hat sich in den Monaten der Pandemie gleichermaßen kreativ und verantwortungsvoll gezeigt, und dafür sollten wir den Ehrenamtlichen an der Basis Dank und Respekt zollen. Und je mehr Menschen sich impfen lassen, desto eher kann auch im Sport endlich wieder Normalität eintreten. Daher mein eindringlicher Appell: Lassen Sie sich bitte impfen!

Wie sind die Sportvereine auch in Westfalen durch die Pandemie gekommen? 
Ich habe in den vergangenen Monaten unzählige digitale Veranstaltungen zur Situation des Sports in Zeiten der Pandemie durchgeführt. Vereinsvertreter:innen aus der ganzen Republik haben mir von ihren Erfahrungen und Lösungsansätzen berichtet und ich war nach jedem Online-Event wirklich beeindruckt, mit welch hohem Engagement und kreativen Ideen vor Ort versucht wurde, die Sportvereine durch diese lange Durststrecke zu manövrieren. Mitgliederrückgänge haben fast alle Vereine in mehr oder weniger großem Ausmaß zu verzeichnen, und das gilt natürlich auch für die westfälischen Sportvereine. Allerdings halten sich die Austritte weitgehend noch im üblichen Rahmen – das zeigt auch, welche Wertschätzung unsere Vereine über das reine Sporttreiben hinaus bei den Mitgliedern genießen! Was aber schmerzlich fehlt, sind die Neueintritte. Ich begrüße ausdrücklich die Kampagnen des organisierten Sports, um die Menschen zurück in die Sportvereine zu locken. Da spielen die Landessportbünde eine wichtige und aus meiner Sicht auch wirklich gute Rolle. So hat der LSB NRW bereits die Aktion „Wieder durchstarten“ ins Leben gerufen.

Sie kandidieren bei der Bundestagswahl im September nicht erneut. Was machen Sie zukünftig?
Zunächst einmal werde ich mir die Zeit nehmen, auf die vergangenen Jahre zurückzuschauen und Bilanz zu ziehen. In den 27 Jahren meiner Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag bin ich vor allem zwischen meinem Wahlkreis und Berlin gependelt, durch meine Mitgliedschaft im Auswärtigen Ausschuss war ich dienstlich viel im Ausland unterwegs. Ich freue mich daher jetzt auf die eine oder andere ganz private Reise. Meine Passion war immer die Leichtathletik, also werden sie mich auch zukünftig bei kleinen und großen Wettkämpfen und Meisterschaften finden. Ebenso steht auch in meinem „‚Zukunftsprogramm“, häufiger die Joggingschuhe zu schnüren oder aufs Rad zu steigen.

Die Fragen stellte Jürgen Bröker

Lesen Sie außerdem zu den Olympischen Spielen:

  • Zahlreiche Athleten aus der Region starten bei den Olympischen Spielen: Von Westfalen nach Tokio.
  • Ingrid Mickler-Becker gewann zwei Mal Olympiagold. Vor allem ihre ersten Olympischen Spiele 1960 in Rom wird sie nie vergessen: Wie ein Traum

Lesen Sie auch im Bereich "Gesellschaft, Politik / Wirtschaft"

Testen Sie den WESTFALENSPIEGEL

Ihnen gefällt, was Sie hier lesen? Dann überzeugen Sie sich von unserem Magazin