"Arbeit" ist Thorsten Nagelschmidts fünfter Roman. Collage: wsp
09.11.2020

Die Helden der Nacht

Buchtipp: Berlin schmutzig, überfordert – Thorsten Nagelschmidts herausragender Roman über den harten Lebensalltag in der Hauptstadt.

In seinem letzten Roman „Der Abfall der Herzen“ (2018) hatte Thorsten Nagelschmidt, 43, Sänger und Texter der Band Muff Potter, die Klaustrophobie und Agonie der westfälischen Provinz im Sommer 1999 beschrieben. Nun wendet er sich in „Arbeit“, das Autobiografische hinter sich lassend, prekären Milieus in Berlin-Kreuzberg zu. In „rauschhaft miteinander verwobenen Episoden“ (Süddeutsche Zeitung) begleitet der Leser elf Frauen und Männer durch eine einzige Nacht, darunter einen Taxifahrer, den Rezeptionisten eines Hotels, einen Türsteher, eine Streifenpolizistin und eine Verkäuferin beim „Späti“.

Der Leser gerät immer tiefer in eine Parallelwelt, die durch ihre Sprengkraft, Dynamik und Tragik einen subversiv-faszinierenden Sog ausübt. Er wird dabei mit den Schattenseiten einer Realität konfrontiert, die härter und schockierender kaum beschrieben werden könnte. Hier lernt er sie hautnah kennen, die Helden der Nacht, die Gebeutelten, Ausgenutzten, jeder auf sein kleines Glück hoffend und doch ohne wirkliche Chance auf den großen Coup. Alle Protagonisten sind irgendwie am Anschlag, lediglich darauf bedacht, die nächsten zehn, zwölf Stunden zu überstehen, während in ihrem Kopf die Hölle los ist – „Help me make it through the night“ („Hilf mir, die Nacht zu überstehen“), wie im Song von Kris Kristofferson.

Kaum Luft zum Durchatmen

So auch Tanja. Sie hat die Schule verbockt und finanziert das Abendgymnasium durch einen Job als Rettungssanitäterin. Ihr Traum ist ein Medizinstudium und eine Laufbahn als Ärztin. Doch bei mehreren aufeinanderfolgenden Zwölf-Stunden-Schichten bleibt kaum Luft zum Durchatmen. Sie ist eine junge Frau mit Träumen und viel Fantasie: „Sie denkt: Berlin. Der Himmel über den Dächern schimmert wie ein Batiktuch, sanfte Verläufe in Neon-Pastell, Pfirsich und Pflaume, ganz unten eine Spur von Bluterguss, sie atmet tief durch die Nase ein, Frühling, und zündet sich eine Kippe an …  Sie dreht sich zu ihm um: Kollege, ich hätte da mal eine kurze Frage. Schieß los. Der Krebs, der läuft im Meer ja auf dem Boden. Korrekt. Also wenn der da so rumläuft und die Fische schwimmen über ihn hinweg, denkt der Krebs dann, Fische können fliegen? Hm. Schätze schon, sagt Tarek und schießt seine Turnschuhe in die Ecke.“ Jener Tarek erklärt ihr schließlich seine Liebe, was Tanja in eine neue Stresssituation versetzt: „Oh Mann, Tarek, Scheiße. Schon lange? ’ne Weile. Dachte, bei dir wäre da auch was.“

Autor und Musiker Thorsten Nagelschmidt. Foto: Harald Hoffmann

Autor und Musiker Thorsten Nagelschmidt. Foto: Harald Hoffmann

Der WESTFALENSPIEGEL traf sich mit dem Autor auf dem Kulturgut Nottbeck in Oelde-Stromberg, um über sein neues Buch zu sprechen. Nagelschmidt hatte sich dort schon zum zweiten Mal mit seiner Band Muff Potter für mehrere Tage einquartiert, um zu erkunden, ob man nach längerer Pause eine Wiederbelebung des erfolgreichen Bandprojekts starten solle.

Aus der Nische „Musiker, der auch Bücher schreibt“ heraus

Er könne es ganz gut in der ländlichen Umgebung aushalten, erklärt Nagelschmidt, der die westfälische Provinz aus eigener Erfahrung (er stammt aus Rheine) gut kennt. Hier könne er dem lauten Stadtleben Berlins für einige Tage entfliehen. Die Literatur sei inzwischen für ihn zu einem festen, ja seinem eigentlichen Standbein geworden. Die geradezu enthusiastische Resonanz auf seinen aktuellen, fünften Roman bestätige ihn darin, dass er mit dieser Entscheidung richtigliege. Mit „Arbeit“ sei er aus der Nische „Musiker, der auch Bücher schreibt“ herausgetreten und werde als eigenständiger Schriftsteller wahrgenommen.

Die Idee zu einem Roman über das Berliner Nachtleben sei ihm schon vor einigen Jahren nach einem Gespräch mit einem Polizisten gekommen, ohne dass ihm damals schon die Dimension des Projekts vor Augen stand. Nach und nach habe er dann immer größeres Interesse an den fast unsichtbaren Nacht-Existenzen Berlins gefunden, an jenen, die den Dreck wegräumen, den die Party-People hinterlassen. Mit einigen dieser Marginalisierten habe er Interviews geführt, die in den Roman eingeflossen seien. Nicht eins zu eins, wie Nagelschmidt betont, aber doch wiedererkennbar. Mit etlichen von ihnen stehe er weiterhin in freundschaftlichem Kontakt.

Vorbild: der Film „Short Cuts“

Unser Gespräch kommt auch auf die Corona-Krise. Die im Roman „Arbeit“ Porträtierten sind mehr noch als viele andere Opfer der Pandemie. Heute müsste man den Roman anders schreiben, erklärt Nagelschmidt, insofern sei „Arbeit“ auch ein Dokument der Vor-Corona-Zeit, in der zwar vieles im Argen lag, aber zumindest provisorisch funktioniert habe. Besonders freut Nagelschmidt, dass er von Lesern immer wieder auf die soziale Seite des Romans angesprochen, er in gewisser Hinsicht als Anwalt der Underdogs angesehen werde, deren harten Lebensalltag er in den Mittelpunkt rückt. Diesen Aspekt habe er beim Schreiben gar nicht im Hinterkopf gehabt, aber die Interpretation sei ihm schon deshalb nicht unlieb, weil er sich als Künstler in einer durchaus vergleichbar unsicheren Situation befinde wie viele seiner „Helden“.

„Arbeit“ erschien 2020 bei S. Fischer und liegt bereits in 3. Auflage vor. 336 Seiten. 22 Euro. ISBN 978-3103974119

„Arbeit“ erschien 2020 bei S. Fischer und liegt bereits in 3. Auflage vor. 336 Seiten. 22 Euro. ISBN 978-3103974119

Unmittelbare literarische Vorbilder für „Arbeit“ hätte es nicht gegeben. Wenn man sie suchte, dann eher im filmischen Bereich. Hier verweist er auf Roberts Altmans Film „Short Cuts“, der ebenfalls Episoden aneinanderreiht, die jede für sich stehen, und es nur zufällig zu personellen Überschneidungen kommt. In „Arbeit“ bildet das Leben des Taxifahrers Bederitzky einen verdeckten roten Faden. Der Hobbymusiker, der permanent pleite ist, legt im Taxi schon mal einen Song von sich auf und ist gespannt auf die Reaktion der Fahrgäste. In besagter Nacht ist das Glück nicht auf seiner Seite. „Einmal falsch abgebogen, und das Leben stellt dir für immer ein Bein“, heißt es.

Nagelschmidts „Arbeit“ ist sein bisher reifstes, bestes Buch, das ohne Zweifel zu den herausragenden Neuerscheinungen des Jahres 2020 zählt. Vor allem auch, weil es sprachlich überzeugt, denn Nagelschmidt gibt jeder Geschichte ein eigenes Gesicht, ein spezifisches Tempo und Kolorit. Ein Buch, das man nachts lesen sollte, selbst auf die Gefahr hin, dass man anschließend keinen Schlaf mehr findet. Es ist auch eines der „traurigsten Bücher des Jahres“, wie es in einer Kritik hieß. Auch deshalb, weil es so brutal ehrlich ist.

Walter Gödden

Dieser Text erschien in Heft 5/2020 des WESTFALENSPIEGEL. Gerne senden wir Ihnen über unser Probeabo zwei Ausgaben kostenlos zu. Einfach hier klicken.

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