„Die Kommunen haben in Deutschland eine besondere Rolle“
Im Interview zur Kommunalwahl 2020 spricht Professor Norbert Kersting, Politikwissenschaftler an der Universität Münster, über die Rolle der Bürgermeister und Kommunen.
Seit 1999 werden Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in Nordrhein-Westfalen direkt gewählt. Was hat sich dadurch verändert?
Durch die Direktwahl haben wir eine Aufwertung des Amtes bekommen. Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sind seither noch stärker in der Exekutive als Verwaltungschefs in Erscheinung getreten. Früher lag der Fokus wesentlich mehr auf repräsentativen Aufgaben. Sie galten als zentrale Institution des politischen Systems in den Kommunen. Durch die Direktwahl sind sie sowohl politische als auch Verwaltungsspitze. Sie haben aber den Rat an der Seite. Im Amt des Bürgermeisters geht es darum, gemeinsam mit dem Rat und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen kommunale Politik zu definieren.
Hat es durch die Direktwahl neue Entwicklung bei der Auswahl der Kandidaten gegeben?
Ja, in der Tat. Wir haben in NRW zwar immer noch eine sehr starke parteipolitische Aufladung der Kommunalpolitik. In anderen Bundesländern, die schon länger ein Direktwahlverfahren haben, ist das deutlich anders. Aber auch bei uns hat sich das verändert. Bürgermeisterkandidaten können nicht mehr darauf vertrauen, von einer Partei nominiert und dann vom Bürger gewählt zu werden. Mittlerweile muss man auch in NRW breitere Bevölkerungsgruppen ansprechen. Das hat enorme Auswirkungen auf das Amt des Bürgermeisters. Er versteht sich noch stärker als Bürgermeister aller politischen Gruppen. Und er muss diese Gruppen auch ansprechen, nicht nur weil das eigentlich grundsätzlich seine Aufgabe ist, sondern auch weil er wiedergewählt werden möchte. Das hat die Chancen von Kandidaten kleinerer Parteien oder sogar parteiloser Kandidaten erhöht.
Wie sieht die Leitung der Verwaltung ganz konkret aus? Was macht ein Bürgermeister in dieser Position?
Die Kommunen haben in Deutschland eine besondere Rolle. 80 Prozent aller staatlichen Aufgaben werden kommunal umgesetzt. Dabei gibt es hoheitliche Bereiche, die für die Kommune kaum Spielraum lassen, etwa wenn es um das Einwohnermeldewesen geht. Und andere im sogenannten eigenen Wirkungskreis, die mehr Freiraum ermöglichen. Nehmen wir das Beispiel Kindergarten. Da wurden Kommunen in den 1990ern ziemlich plötzlich mit dem Gesetz konfrontiert, dass Kinder ab drei Jahren einen Anspruch auf einen Kindergartenplatz haben. Das muss man aber auch finanzieren und umsetzen können. Nicht alle Kommunen waren dazu in der Lage. Die Städte unterlagen der staatlichen Regulierung, hatten aber trotzdem den Spielraum, wie man das implementiert. Es gab Kommunen, die die freien Träger sehr stark eingebunden haben, andere haben dafür mehr auf die Kirchen gesetzt.
Welche Rolle nimmt ein Bürgermeister dabei ein?
Der Bürgermeister muss sich bei den Entscheidungen mit dem Rat abstimmen. Er ist letztlich nur Verwaltungschef. Er kann Vorgaben und Planungen machen, aber er ist eingebunden in ein Team. Er muss sich mit den Beigeordneten, d.h. den Dezernatsleitern einigen. Der Rat ist dann das zentrale Gremium, das politische Entscheidungen bestimmt. Ein Fingerschnippen vom Bürgermeister reicht bei Weitem nicht.
Wie sieht das in einem Krisenfall wie jetzt bei der Corona-Pandemie aus?
Natürlich hat die Krise Einfluss auf die Arbeit der Bürgermeister. Es werden im Moment kaum große und weitreichende Entscheidungen getroffen, die nicht unmittelbar mit der Krise zu tun haben. Zum einen liegt es daran, dass sich der Rat nur in eingeschränkter Weise versammeln kann. Zum anderen hängt das auch mit der finanziellen Lage zusammen. Denn auf der Einnahmenseite fehlen einigen Kommunen durch die Corona-Krise zwischen 40 und 70 Prozent, weil die Gewerbesteuer wegbricht – besonders betroffen sind übrigens die Kommunen, die bisher ganz gut dastanden und hohe Gewerbesteuer eingenommen haben. Auf der anderen Seite werden Kommunen auch höhere Ausgaben durch höhere Arbeitslosigkeit und Sozialkosten haben. Deshalb sind viele Bürgermeister jetzt zurückhaltend, was Investitionen angeht. Es wird einen Rettungsschirm geben. Zumal unklar ist, für wen und für was der Bund und Land da einspringt.
Sind die Amtsinhaber gut auf die Krise vorbereitet gewesen?
Im Katastrophenschutz wurde seit den 1990er Jahren vieles kleingespart. Häufig war in diesem Bereich alles auf Kante genäht. Trotz des wirtschaftlichen Wachstums seit einigen Jahren wurde die kommunale Infrastruktur vernachlässigt und es hat einige Fehlentwicklungen gegeben. Im Gesundheitswesen, aber auch bei der Digitalisierung wird dies deutlich. Das tritt jetzt zu Tage. Da wird man den Kommunen im Rahmen der Daseinsvorsorge in Zukunft wohl noch mehr Aufgaben geben, aber dann wird man sie hoffentlich auch finanziell besser ausstatten.
Welche Voraussetzungen sollte man mitbringen, wenn man Bürgermeister werden möchte – ein Lehrberuf ist das ja nicht.
Früher war es wichtig, dass man eine Parteikarriere hatte. Auch technokratische Fachkenntnisse waren hilfreich. Inzwischen ist durch die Direktwahl die Außenwirkung sehr viel wichtiger geworden. In verschiedene Gruppen hineinzuwirken, eine gewissen Offenheit an den Tag zu legen. Eine Person, die integrieren, die zuhören kann, die auch Brücken bauen kann, das ist den Wählern wichtig. Parteisoldaten stehen nicht mehr ganz so im Fokus der Kandidatenwahl. In großen Kommunen sind die Kandidaten aber trotzdem eher noch an eine Partei gebunden.
Stimmt die Beobachtung, dass das Ansehen von Kommunalpolitikern in den vergangenen Jahren gesunken ist?
Die Kritik an politischen Institution ist grundsätzlich gestiegen und gleichzeitig ist das Ansehen der Bürgermeister, der ehrenamtlichen Kommunalpolitiker allgemein, erodiert. Das politische Establishment in Bund, Land und Kommune wird leider über einen Kamm geschoren. Es gibt schwarze Schafe und Skandale, aber gerade auch im kommunalen Bereich viele ehrenwerte Politiker, die sich wirklich für das Gemeinwohl einsetzen.
Ist das auch ein Grund dafür, dass es schwieriger wird, Bewerber für politische Ämter zu finden?
Das spielt sicher auch eine Rolle. Aber es kommen weitere Aspekte hinzu. Drohungen und Gewalt gegen Amtsinhaber haben zugenommen. Außerdem kennt der Bürgermeister keine 36-Stunden-Woche. Es ist ein sehr intensiver Beruf. Neben der Leitung der Verwaltung müssen die Bürgermeister ihre Stadt auch nach außen repräsentieren, das zieht viele Termine auch am Abend und am Wochenende nach sich. Der Beruf beinhaltet sehr viele verschiedene Aufgaben und die Reputation sinkt. Dafür geeignete Kandidaten zu finden, wird immer schwieriger. Zumal auch die Verdienstmöglichkeiten in der freien Wirtschaft wesentlich besser sind.
Interview: Jürgen Bröker