
„Die Parteienbindung ist nicht mehr so stark“
Der Politikwissenschaftler Prof. Norbert Kersting von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster ordnet die Wahlergebnisse aus westfälischer Perspektive ein.
Herr Prof. Kersting. In einigen Wahlkreisen Westfalens konnte die CDU zwar ihr Direktmandat gewinnen, hat aber die Mehrheit bei den Zweitstimmen verloren. Was bedeutet das?
Das ist eine interessante Entwicklung, die zeigt, dass die Bürgerinnen und Bürger immer häufiger gesplittet wählen. Erst- und Zweitstimme werden zwischen den Parteien aufgeteilt. Die Parteienbindung ist nicht mehr so stark. Hier werden im Übrigen auch die erdrutschartigen Verluste der CDU sehr deutlich. Bei der Erststimme hat der Vorsprung aus der letzten Bundestagswahl oft noch für die Kandidatin oder den Kandidaten gereicht. Bei der Zweitstimme aber nicht mehr. So haben sich im Münsterland alle CDU-Direktkandidaten durchgesetzt, im Kreis Steinfurt III von Bundesbildungsministerin Anja Karliczek ist aber die SPD bei den Zweitstimmen stärkste Kraft. Das zeigt: Das Ergebnis einer Wahl hängt auch an den Kandidaten der Parteien.
Überrascht Sie der deutliche Vorsprung der Grünen in Münster bei Erst- und Zweitstimme?
Nein, überrascht bin ich nicht. Dennoch ist Münster als grüner Fleck in Westfalen eine deutliche Ausnahme. Dort hat es die CDU überhaupt nicht geschafft, mögliche Gewinnerthemen zu platzieren. Weder Partei noch Direktkandidat konnten thematisch punkten. Ganz anders die Grünen. Sie haben es verstanden Nachhaltigkeit, Klimaschutz, aber auch soziale Themen wie Gesundheit und Pflege ins Bewusstsein zu rücken. Dagegen hatte dann auch die prominente SPD-Kandidatin, Bundesumweltministerin Svenja Schulz, keine Chance.
Was ist Ihnen in Westfalen noch aufgefallen?
Zum einen die hohe Wahlbeteiligung von bis zu 80 Prozent, in Teilen sogar darüber. Das ist positiv. Allerdings heißt das immer noch, dass auch dort fast jeder fünfte Wahlberechtigte seine Stimme nicht abgegeben hat. Da liegt für die Parteien also immer noch eine Menge Potenzial. Und dann kann man sicher sagen, dass die AfD in der Region kaum eine Rolle spielt. In Münster wurde sogar gefeiert, dass die Partei dort nicht einmal drei Prozent der Stimmen erhalten hat.
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Woran liegt das?
Westfalen und vor allem das Münsterland sind katholisch geprägt. Die CDU besetzt dort konservative Themen. Da kommt die AfD nicht durch.
Analysen zeigen, dass jungen Wähler zwischen 18 und 32 Jahren vor allem Grün und die FDP gewählt haben, was bedeutet das für zukünftige Wahlen?
Noch ist die Wählergruppe der Über-60-Jährigen dominant. Aber das wird sich ändern. Auch SPD und CDU müssen sich zukünftig stärker mit den Themen der jüngeren Generation befassen. Diese Generation wählt anders, sie wechselt möglicherweise auch öfter. Die Zugehörigkeit zu alten Parteimilieus wird weiter sinken.
Trotz der Niederlage der CDU will Armin Laschet mit einer Jamaika-Koalition die Regierung stellen.
Das ist schon ungewöhnlich. Eigentlich akzeptiert man unter Demokraten eine Niederlage. Und das ist es für die CDU. Sie hat erdrutschartige Verluste hinnehmen müssen und liegt ja auch im Endergebnis hinter der SPD.
Dennoch: Die Regierungsbildung scheint schwierig zu werden. Glauben Sie dass Angela Merkel doch noch einmal eine Neujahrsansprache halten muss?
Nein, davon gehe ich nicht aus. Es kann strategisch gut sein, wenn jetzt erst einmal FDP und Grüne miteinander ausloten, wie sie zusammenarbeiten können. Das scheint mir sinnvoll, schließlich liegen die beiden Parteien programmatisch am weitesten auseinander, müssen aber bei einer Koalition zusammenarbeiten. Immerhin scheint es so, dass sich die Spitzen von FDP und Grünen nicht gänzlich unsympathisch sind. Das nicht zu unterschätzen. Denn die Partner müssten ja vier Jahre lang gemeinsam an einem Kabinettstisch sitzen.
Für Ministerpräsident Lascht muss in NRW ein Nachfolger gefunden werden. Wen sehen Sie am ehesten auf diesem Posten?
Meiner Meinung nach kommt man an Hendrik Wüst nicht vorbei. Er würde dann auch als Amtsinhaber und Spitzenkandidaten in den Landtagswahlkampf im kommenden Jahr gehen. Aber natürlich haben sich auch andere schon in Position gebracht. So oder so, wenn die CDU eines aus der krachenden Niederlage bei der Bundestagswahl gelernt haben sollte, dann dies: Es wird jetzt wichtig sein, möglichst schnell den Spitzenkandidaten zu benennen und ein Programm aufzustellen. Damit hat die Union bei der Bundestagswahl viel zu lange gewartet. Außerdem sollte sie eine größere Einigkeit präsentieren.
Interview: Jürgen Bröker, wsp