Dramatische Folgen
Heute vor 90 Jahren, am 14. Juli 1933, beschlossen die Nationalsozialisten das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Zu den Schicksalen der Opfer von Zwangssterilisierungen und „Euthanasie“ wurde im Sauerland geforscht.
Sterilisierungsbücher der früher selbstständigen Kreise Arnsberg, Brilon und Meschede gaben den Heimatforschern des Arbeitskreises Dorfgeschichte Voßwinkel weiteren Aufschluss über das radikale Vorgehen der Nationalsozialisten zur „Erbgesundheit und Rassenhygiene“ im NS-Staat. Diese Aufzeichnungen über die NS-Verbrechen wurden von der Archivarin des Kreisarchiv Meschede, Susi Frank, vor zwei Monaten zufällig entdeckt.
400 erzwungene Unfruchtbarmachungen gab es laut den Büchern im Altkreis Brilon. 136 sind für den Kreis Meschede dokumentiert und 300 für den Kreis Arnsberg, zu dem auch die Stadt Warstein gehörte. „Genau dokumentiert wurde im ,Verzeichnis der Unfruchtbarmachungen‘ des Kreises Arnsberg, in welchen Krankenhäusern die Eingriffe vorgenommen wurden und auch, wie Betroffene darunter gelitten haben“, berichtet Michael Filthaut, zweiter Vorsitzender des AK Dorfgeschichte Voßwinkel.
Familiengeschichte als Ausgangspunkt der Recherche
Ausgangspunkt für die Recherchen vor drei Jahren war die Familiengeschichte von Filthaut. „Ein Onkel, der an Schizophrenie erkrankt war, wurde 1936 als Patient der Provinzialheilanstalt Warstein sterilisiert. Dass er Vater von vier gesunden Kindern war und dass Schizophrenie keine Erbkrankheit ist, interessierte das Erbgesundheitsgericht (EGG) Arnsberg, das über die Zwangssterilisation zu entscheiden hatte, nicht“, berichtet Filthaut. Urteile des EGG zur Unfruchtbarmachung seien ab 1934 mit aller Härte umgesetzt worden, zeigte die Recherche. Fünf Jahre später wurde der Onkel als „Ballastexistenz“ von den Warsteiner Anstaltsärzten in die Todesanstalt Hadamar geschickt und dort vergast. Das geschah im Rahmen der zentralen Tötungsaktion (Aktion T4), die von 1940 bis 1941 in sechs Tötungsanstalten durchgeführt wurde und etwa 70.000 Menschen das Leben kostete.
Sogenannter erblicher Schwachsinn, aber auch „Dummheit“ galten als Gründe sowohl für eine Unfruchtbarmachung als auch für die „Euthanasie“, also die Ermordung der Betroffenen. Dabei machten die Nazis auch vor Kindern nicht Halt. „Es ging stets um die Frage, ob Menschen im Sinne des nationalsozialistischen Staates zu gebrauchen waren, als Arbeitskraft oder Soldat“, erzählt der Heimatforscher. Gegen diese Praxis stellten sich allerdings katholische Ordensschwestern. Sie weigerten sich, in den Krankenhäusern bei Eingriffen zu assistieren, zeigten die Recherchen.
Suizide waren die Folge
Das Gesetz hatte Auswirkungen weit in die Gesellschaft hinein. Lehrer schrieben für das Gesundheitsamt Beurteilungen über die „Brauchbarkeit“ der Schülerinnen und Schüler. Der Kreismediziner war vor allem damit beschäftigt, die sogenannte Volksgesundheit zu prüfen, zum Beispiel wenn es um Eheschließungen ging. Für Betroffene hatten die Zwangssterilisierungen dramatische Folgen. Reichsweit sind von den über 400.000 Menschen mehr als 5.000 an den Folgen des Eingriffs gestorben. „Es gab in der Folgezeit viele Suizide. Betroffene durften nicht über ihr Schicksal sprechen. Es belastete Familien und ganze Generationen“, hat Filthaut erfahren.
Das Ziel der Heimatforscher um Michael Filthaut ist es, an die Opfer von Zwangssterilisierungen und Euthanasie im NS-Staat zu erinnern. In Vorträgen zeigt er anhand von Original-Dokumenten die Schicksale einiger Opfer auf und beschreibt, wie dramatisch die Folgen des vor 90 Jahren beschlossenen „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ auch im Sauerland waren.
Weitergehende Informationen zu den Recherchen unter www.dorfgeschichte-vosswinkel.de.
aki, wsp