
Ein Macher mit sensibler Ader
Der westfälische Unternehmer Andreas Rottendorf wurde mit Medizintechnik erfolgreich. Seine Leidenschaft galt jedoch der Literatur.
Er war eine schillernde Persönlichkeit – und doch ein bodenständiger Mensch. Ein höchst erfolgreicher und, wenn es sein musste, auch resoluter großstädtischer Unternehmer – und doch jemand, der bescheiden auftrat und sich christlichen Werten verpflichtet fühlte. Ein eigenwilliger, sicherlich nicht einfacher Patron mit Ecken und Kanten, konservativ bis ins Mark – und doch über alle Parteigrenzen hinaus aufs Allgemeinwohl bedacht. Eine stattliche, imposante Erscheinung, ein „Macher“, der aber über eine zweite, sensible Ader verfügte, ein Freund der Dichtung war und zahlreiche eigene Bücher veröffentlichte. Bevorzugt in der niederdeutschen Mundart, die er als seine „Muttersprache“ bezeichnete. Andreas Rottendorf wurde 1897 auf einem Bauernhof in der Ennigerloher Dorfbauerschaft Beesen geboren. In einem Gedicht charakterisiert er sich als Bauer – und nicht als erfolgreicher Industrieller, der er ja in Wirklichkeit war. Als er 13 Jahre alt ist, verkauft seine Mutter den von ihrem Sohn so geliebten elterlichen Hof an die Zementindustrie und zieht nach Münster. Eine Verlusterfahrung, die ihr Sohn nie verwindet: „Was ich verlor / Gewann ich niemals wieder. / Was mir verblieb, / War kein Ersatz.“
Familieneigener Verlag

Begeisterter Literaturfreund: Andreas Rottendorf, um 1967. Foto: Rottendorf-Nachlass im Kreisarchiv Warendorf
Bis zu seinem 15. Lebensjahr besucht er das Gymnasium in Oelde, bevor er aufs Paulinum in Münster wechselt. Mitten im Ersten Weltkrieg legt er das Notabitur ab und muss gleich anschließend an die Front. Nach dem Krieg bleibt er zunächst Soldat und ist an verschiedenen Orten stationiert. Doch das unstete Wanderleben entspricht nicht seinem Naturell. Er lässt sich nach Münster zurückversetzen und reicht mit 25 Jahren seinen Abschied ein. Für kurze Zeit studiert er Rechts- und Staatswissenschaft, bricht das Studium aber nach kurzer Zeit ab. Im selben Jahr heiratet er die damals 19-jährige, aus dem Elsass stammende Rosalia-Theresia Nierenberger. Sie ist ihm jahrzehntelang eine unersetzliche Stütze. Rottendorf wird Kaufmann in einer chemischen Fabrik in Bückeburg. 1925 zieht er mit seiner Frau nach Berlin, wo er erneut für die Chemieindustrie arbeitet. Drei Jahre später macht er sich selbstständig. Er erwirbt von einem Berliner Apotheker eine kleine Produktionsstätte für die Ummantelung von Tabletten und Dragées. Damit legt er die Grundlage für ein heute weltweit tätiges Unternehmen mit über 1400 Mitarbeitenden und einem Jahresumsatz von über 220 Millionen Euro.
Zu Rottendorfs Zeit ist Berlin das Zentrum der deutschen Chemieindustrie. Entsprechend gut laufen die Geschäfte. Nach fünf Jahren kann er eine eigene Fabrik eröffnen. Zugleich wächst sein Renommee, er wird ins Direktorium der Chemischen Industrie Berlins gewählt. Als er 1939 zum Kriegsdienst eingezogen wird, übernimmt seine Frau die Leitung des Unternehmens, das in Berlin und einem Ersatzstandort im Vogtland ausgebombt wird. Nach dem Krieg steht das Ehepaar vor dem Nichts. Doch es lässt sich nicht entmutigen und eröffnet in Berlin einen neuen Produktionsstandort. Die weiteren Pläne führen jedoch zurück nach Westfalen. Rottendorf erwirbt in seiner Heimatstadt Ennigerloh ein etwa 30000 Quadratmeter großes Gelände – inklusive einer Direktionsvilla, in der bis heute die Rottendorf-Pharma ihren Firmensitz hat. Die Kontakte nach Berlin bleiben bestehen. Das Ehepaar behält dort eine von Rose Rottendorf geleitete Produktionsstätte. Im familieneigenen Verlag „Contra torrentem“ – „gegen den Strom“ – veröffentlicht ihr Mann ab 1956 seine literarischen Texte, immerhin elf Bücher.
Gedichte aus „tieffühlendem Herzen“
In seinem letzten Jahrzehnt wir das literarische Schreiben für Rottendorf zu einem bestimmenden Lebensinhalt. Seine Texte sind ein unmittelbarer Spiegel seiner Persönlichkeit. Es geht ihm nicht um die ästhetische Seite seiner Verse, sondern um ihre moralisch-menschliche Botschaft. Anton Aulke zufolge zeigen Rottendorfs Gedichte „einen völlig originalen Dichter “. Seine Gedichte kämen aus „tieffühlendem Herzen“, schlicht in der Sprache, aber originell und treffsicher im Ausdruck, voller Humor und Satire. Auch in der Lokalpresse ist Rottendorf – meist mit Aperçus aus dem Alltag – mit zahlreichen Gedichten vertreten. Sein Nachlass im Kreisarchiv Warendorf umfasst über 2500 Gedichte, die zeigen, dass er weit mehr als ein „Hobby-Schreiber“ war. Am Unverwechselbarsten ist Rottendorf in seinen sehr persönlichen Gedichten. Sie leiten zu seiner letzten Lebensphase über. Ein melancholischer Grundton hält Einzug: „De Pättkes wäht viel wenniger, / De Autos feuhet hänniger, / De Mensk fölIt sick elenniger. / De Büske so kahl, / De Ahntwai so schmahl / … Ick gonk bi Sëit. / Ick socht Gemeut, / Et kwamm mi nich entihgen.“
Dieser Beitrag ist zuerst in Heft 5/2024 des WESTFALENSPIEGEL erschienen. Möchten Sie mehr lesen? Gerne senden wir Ihnen zwei kostenlose Ausgaben unseres Magazins zu. Hier geht es zum Schnupperabo.
Noch zu Lebzeiten rief der Autor einen „Rottendorf-Preis für die Förderung der niederdeutschen Literatur“ ins Leben. Er wird seit 1963 zweijährig im Wechsel mit einem Forschungspreis auf dem Gebiet der Pharmazie vergeben. Rottendorf starb 1971 mit 74 Jahren. Bestattet wurde er in einem Sarg, den er aus einer alten Eiche fertigen ließ, die auf dem Familienbesitz gewachsen war. Seine Frau Rose starb zehn Jahre später im Alter von 81 Jahren. Das Grab besteht aus einem unscheinbaren Findling. Es sind nicht einmal die Namen der dort Begrabenen eingraviert. Ein langgehegter Wunsch blieb Andreas Rottendorf versagt: das Unternehmen in eine gemeinnützige Stiftung zu überführen. Dies blieb seiner Frau Rose vorbehalten. 1974, vor 50 Jahren, wurde die Rottendorf-Stiftung ins Leben gerufen, die sich bis heute kirchlichen und mildtätigen Zwecken sowie der Pharma-Forschung und der Pflege der niederdeutschen Sprache widmet. Das letzte Lebensziel Rottendorfs ging damit in Erfüllung, es trägt bis heute Früchte.
Walter Gödden