Das DRK ist einer der größten Anbieter für Freiwilligendienste. Foto; Andre Zeck/DRK Service GmbH
20.07.2023

Ein Pflichtjahr für alle?

100.000 junge Menschen engagieren sich jedes Jahr freiwillig. Dennoch wird weiter über ein verbindliches Gesellschaftsjahr diskutiert.

Zoe Gerseker wollte nach dem Abitur nicht direkt studieren. „Ich wollte ausprobieren, was mir liegen könnte“, sagt die 18-Jährige. Deshalb hat sie sich für ein Freiwilliges Soziales Jahr bei den von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel beworben. Seit dem vergangenen Jahr arbeitet sie in einem Wohnheim und betreut dort Menschen mit geistiger Behinderung. Den Schritt hat sie nie bereut, im Gegenteil: „Ich bekomme so viel von den Bewohnern zurück. Das war eine der besten Entscheidungen, die ich je getroffen habe“, erzählt sie begeistert.

500 junge Menschen engagieren sich jedes Jahr in den verschiedenen Bethel-Einrichtungen. Etwa 100.000 sind es nach einer Studie der Hertie-Stiftung in den unterschiedlichen Angeboten des Freiwilligendienstes aktuell bundesweit. Das entspricht etwa zwölf Prozent der Jugendlichen. Sie tun dies aus freien Stücken. „Die Motivation dabei ist ganz unterschiedlich“, sagt Stefan Homann, Leiter der Freiwilligenagentur Bethel. Er erlebt junge Menschen, die nach Orientierung suchen oder die Gutes tun und etwas zurückgeben wollen. „Manche wollen nach der Schulzeit auch einfach etwas Praktisches machen oder die Wartezeit auf einen Studienplatz überbrücken“, so Homann.

Gute Ideen für den Alltag

Für die Einrichtungen sind die Freiwilligen ein Segen. Sie sind meist hoch motiviert, entlasten Fachkräfte, unterstützen bei der Pflege, haben Zeit für Dinge, die sonst im Alltagsgeschäft liegen bleiben. „Nicht selten bringen sie aber auch gute Ideen mit, weil sie einen frischen Blick von außen auf die ansonsten routinierten Abläufe haben“, erklärt Homann. Und immerhin: Fast 25 Prozent der Betheljahr-Absolventen bleiben in den sozialen Berufen hängen, machen anschließend eine entsprechende Ausbildung.

Trotz der vielen positiven Erfahrungen wird immer wieder über das Ende der Freiwilligkeit diskutiert. Die Zahl der Befürworter eines sozialen Pflichtjahrs für junge Menschen steigt. Dabei ist die Diskussion nicht neu. Schon 2019 hatte die damalige CDU-Bundesvorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer für eine Dienstpflicht für junge Menschen geworben. Zuletzt sprach sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier für ein Pflichtjahr aus. Er sorgt sich um den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Soziales Engagement schaffe Begegnungsmöglichkeiten, es helfe dabei, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, erklärte Steinmeier in einem Interview mit der ARD.

Das Betheljahr ist ein Bildungssystem- und Orientierungsjahr für junge Erwachsene ab 17 Jahren. Ein Arbeitsbereich ist die Behindertenhilfe. Foto: www.bethelJAhr.de

Das Betheljahr ist ein Bildungssystem- und Orientierungsjahr für junge Erwachsene ab 17 Jahren. Ein Arbeitsbereich ist die Behindertenhilfe. Foto: www.bethelJAhr.de

Ein großer Befürworter des Pflichtjahres ist auch der Direktor des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL), Dr. Georg Lunemann. Er ist überzeugt, dass junge Menschen durch ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr profitieren würden: Für sie bedeute ein solches Jahr, „den Horizont zu erweitern, sich mit Menschen auseinanderzusetzen, die aus ganz anderen Bereichen kommen, die andere Lebensrealitäten haben. So kann aus der Pflicht nicht nur ein Gewinn für die Gesellschaft, sondern auch für den Einzelnen werden.“ Der LWL biete dazu gern eine Plattform. „Wir könnten aus dem Stand rund 500 Plätze für ein Gesellschaftsjahr anbieten“, so Lunemann weiter.

Kritik an Sparvorhaben

Bei den politischen Parteien wird das Thema kontrovers diskutiert. Während die Mehrheit der Delegierten auf dem CDU-Bundesparteitag im vergangenen Herbst für die Einführung eines verpflichtenden Gesellschaftsjahres gestimmt hat, sind andere Parteien skeptisch. Die Grünen, SPD und FDP im Land setzen weiter auf Freiwilligkeit. Sie kritisieren vor allem die weitreichenden Einschnitte in die Freiheit junger Erwachsener, führen aber auch ökonomische Gründe an.

Die demographische Entwicklung und die damit verbundene geringere Zahl an Jugendlichen hat in jüngster Vergangenheit dazu geführt, dass Sozialverbände und Anbieter freiwilliger sozialer Dienste zunehmend Schwierigkeiten haben, ihre Stellen zu besetzen. Dennoch sprechen sich etwa die Lebenshilfe NRW, das Bistum Münster oder auch das Deutsche Rote Kreuz gegen ein Pflichtjahr aus. Sie fürchten unter anderem, dass eine Verpflichtung zu einer geringeren Motivation führen kann.

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Daher würde man sich vielmehr eine stärkere Unterstützung der Freiwilligkeit wünschen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Denn die Bundesregierung hat angekündigt, die Mittel für Freiwilligendienste aufgrund der angespannten Haushaltslage zu reduzieren. So sollen im kommenden Jahr rund zehn Prozent in diesem Bereich eingespart werden. Scharfe Kritik daran kommt etwa vom Deutschen Roten Kreuz: „Es erscheint paradox, dass ständig Diskussionen um eine Pflichtzeit oder ein Gesellschaftsjahr aufkommen, während die bestehenden Freiwilligenprogramme unter Druck geraten. Wir sollten die vorhandenen Potenziale der Freiwilligendienste besser nutzen und diesen Bereich stärken“, sagt DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt.

„Man wächst auch selbst daran“

Mehr Potenzial ist durchaus vorhanden. Umfragen zeigen, dass bis zu 50 Prozent der jungen Leute bereit wären, einen Freiwilligendienst zu leisten. Allerdings müssten dafür die Rahmenbedingungen verbessert werden, so die Autoren der Studie der Hertie-Stiftung. Bekannte Hürden wie das niedrige Taschengeld, fehlende Teilzeitoptionen oder mangelnde Informationen ließen sich aber beseitigen.

Friederike Kley haben diese Hürden nicht abgeschreckt. Sie hat sich nach dem Abitur ebenfalls für ein Betheljahr entschieden und arbeitet dort in der Kinderklinik. „Ich helfe den Pflegern bei der Betreuung und Pflege der kleinen Patienten, begleite die Kinder zu Untersuchungen oder spiele mit ihnen“, sagt sie. Die 19-Jährige hat durch ihren Freiwilligendienst Klarheit über ihren Berufswunsch erhalten. „Ich bin mir jetzt sicher, dass ich Medizin studieren möchte“, sagt sie. Auch deshalb fällt ihr Fazit für ihr Soziales Jahr positiv aus: „Es ist ein gutes Jahr, nicht nur für andere, sondern man wächst auch selbst daran.“ Sie hätte nichts dagegen, würde man es zur Pflicht für alle Jugendlichen machen.

Jürgen Bröker

Dieser Beitrag ist aus Heft 3/2023 des WESTFALENSPIEGEL. Mehr zur Diskussion um das Pflichtjahr lesen Sie hier

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