Die „Drama Control“ entscheidet am Jungen Schauspielhaus in Bochum, welche neuen Stücke auf die Bühne kommen. Foto: Martin Steffen
22.09.2023

Ein Theaterrevier für alle

Im Jungen Schauspielhaus Bochum wird die Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen gelebt. Die 2020 eröffnete Spielstätte wird nun dauerhaft im Rahmen des Programms „Neue Wege“ des NRW-Kulturministeriums gefördert. 

Bochum hat eine junge Bühne: Das Theaterrevier im Kreativ-Quartier Prinz Regent ist der Ort für die Kinder- und Jugendsparte des Schauspielhauses Bochum – ein eigenes Haus einige Kilometer entfernt vom berühmten Stadttheater, an dem die Mitbestimmung der jungen Theatermachenden nicht allein auf dem Papier steht. Sie wird dort wirklich gelebt. Deshalb kann man nicht nur mit einer Person sprechen, wenn man etwas über das Theaterrevier erfahren will.

„Ich teile mir die künstlerische Leitung zusammen mit der Drama Control“, erklärt Cathrin Rose, die das Junge Schauspielhaus unter der Intendanz von Johan Simons übernommen hat. Die „Drama Control“ ist ein Jugendaufsichtsrat mit ungefähr 15 Mitgliedern, die bei allen wichtigen Entscheidungen ganz selbstverständlich mitbestimmen können. Sie können Themen und Projekte vorschlagen, Künstler*innen kennenlernen, konkrete Handlungsanweisungen an das Team des Theaterreviers geben sowie den Spielplan, künstlerische Prozesse und die Kommunikation des Hauses mitgestalten.

Das Theaterrevier ist in der ehemaligen Zeche Prinz Regent in Bochum angesiedelt. Foto: Daniel Lueder

Das Theaterrevier ist in der ehemaligen Zeche Prinz Regent in Bochum angesiedelt. Foto: Daniel Lueder

„Ich habe immer gedacht, wenn man Theater für junge Menschen macht, müssen sie eine eigene Stimme haben“, sagt Cathrin Rose. Sie versucht deshalb, einen utopischen Raum zu halten, der außerhalb der Regeln und Gesetze steht, die in der Gesellschaft normalerweise gelten. Denn: „Menschen unter 18, das ist die einzige gesellschaftliche Gruppe, die wir legal diskriminieren dürfen. Wir bestimmen alles für sie. Deshalb finde ich einen eigenen Ort so wichtig. Das ist die Zukunft!“

Spiegel der Gesellschaft

So sitzen in der Drama Control junge Leute zwischen vier und 21 Jahren, unterschiedlichen Geschlechts und verschiedener Herkunft – wie unsere Gesellschaft eben ist. Und auch Menschen mit wie auch immer gearteten Einschränkungen sollen ganz selbstverständlich dabei sein können. Ein Mitglied hat zum Beispiel eine körperliche Behinderung und Cathrin Rose würde am liebsten gar keine Worte darüber verlieren, aber hebt dann doch hervor: „Wir müssen Barrierefreiheit so immer mitdenken. Das ist selbstverständlich und keine Besonderheit oder Schwierigkeit. Es ist für uns die Normalität und das ist gut so.“


Dieser Artikel ist im WESTFALENSPIEGEL 01/2023 mit dem Schwerpunktthema „Theater im Aufbruch“ erschienen. Ihnen gefällt, was Sie hier lesen? Gerne senden wir Ihnen im Rahmen unseres kostenlosen Probeabos zwei Ausgaben zu. 
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Wie gut die Abstimmung bisher funktioniert, hört man von den Mitgliedern der Drama Control: „Ich fühle mich wirklich, wenn ich da bin, ein bisschen Zuhause“, sagt der elfjährige Henry über das Theaterrevier, das auch nach den Wünschen des Aufsichtsrats gestaltet wurde. „Wir dürfen wirklich alles mitbestimmen. Wir dürfen alle Vorschläge machen, egal wie verrückt die sind, dürfen sagen, was wir gegen Entscheidungen haben – und wenn es gute Argumente sind, werden sie berücksichtigt.“ 

So hat sich die Gruppe zum Beispiel dafür entschieden, dass es statt eines zweiten Spielorts einen Raum mit gemischter Nutzung gibt, der auch als Foyer und „Abhäng-Ort“ genutzt werden kann. Die Mitglieder geben auch Themen vor, mit denen sich dann Stücke auf dem Spielplan beschäftigen: Nachdem die Großmutter eines Mitglieds starb, setzte die Gruppe zum Beispiel das Thema Tod. Das Stück dazu heißt „Weg vom Fenster“. 

Radikale Mitbestimmung

Ein anderes konkretes Beispiel für Mitbestimmung ist die Inszenierung „Mädchenschrift“, die vom Erwachsenwerden handelt und Sexualisierung und sexuellen Missbrauch thematisiert. Da wünschte sich die Drama Control einen Stückauftrag und stieg auch in einen Dialog mit der Autorin Özlem Özgül Dündar ein. Die Mitglieder und die Autorin entwickelten den Text letztlich gemeinsam, damit er auch mit der Lebenswirklichkeit der jungen Theaterbegeisterten zu tun hat. Bei den Exkursionen, die die Drama Control unternimmt, um andere Eindrücke oder Inspiration zu gewinnen, entdeckte sie das Theaterkollektiv „Henrike Iglesias“ – und lud es nach Bochum ein.

Bald wird es auch ein neues Stück am Theaterrevier inszenieren: „Ihr Stück ‚Fressen‘ über die politischen und gesellschaftlichen Aspekte der Nahrungsaufnahme hat uns auf der Bühne sehr angesprochen, hat mir persönlich auch super gefallen“, erzählt die 19-jährige Annika aus der Drama Control. „Sie bearbeiten Themen immer mit einem queer-feministischen Hintergrund und haben uns erzählt, dass bei ihnen alle überall mitmachen, sie also sehr ähnlich organisiert sind wie wir hier. Es gibt nicht die eine Person, die sagt, wo es langgeht.“

Besonders froh ist Annika, dass das Bochumer Beispiel offenbar Schule macht: „Wir sind schon viel gereist, haben viele Menschen kennengelernt – und oft kennt man uns und unser Projekt auch schon. Viele Städte haben ähnliche Programme aufgelegt und das finde ich wahnsinnig schön, dass es weitergeht.“

Max Florian Kühlem

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