Diskutierten über die angespannte Lage in Kinderarztpraxen und -kliniken (v.l.n.r.): Dr. Georg Hülskamp (Clemenshospital Münster), Dr. Nike Strobelt (Kinder- und Jugendärztenetz Münster e.V.), Prof. Heymut Omran (UKM) und Dr. Michael Böswald (St. Franziskus-Hospital Münster). Foto: UKM/Wibberg
01.12.2022

„Eine absolute Katastrophe“

Kinderkliniken sowie Kinder- und Jugendärzte in Münster schlagen angesichts der RS-Viruswelle Alarm. Es seien kaum noch Betten in den Krankenhäusern frei. Notwendig seien jetzt nachhaltige Investitionen.

„Wir haben aktuell ein massives Problem mit dem raschen Anstieg von Atemwegserkrankungen. Es erkranken gerade sehr viele Kinder und Jugendliche gleichzeitig“, macht Prof. Heymut Omran, Direktor der Kinder- und Jugendklinik am Universitätsklinikum Münster (UKM) deutlich. Insbesondere bei vorerkrankten Kindern könnten diese Erkrankungen so schwer ausfallen, dass sie ins Krankenhaus eingewiesen werden müssen. An den drei Kinderkliniken in Münster seien nur noch einzelne Betten frei. Immer wieder müssten Kinder vom einen ins andere Krankenhaus verlegt werden, um ihnen zum Beispiel Intensivbehandlungen zu ermöglichen. Gleichzeitig gäbe es Anfragen von Kliniken aus dem Ruhrgebiet oder aus anderen Bundesländern auf der Suche nach Behandlungsplätzen, berichtet Omran. Eine Folge: Notwendige, aber weniger dringende Operationen müssten verschoben werden. Dies habe große Belastungen für Kinder und ihre Eltern zur Folge, so der Klinikchef weiter.

Ein Grund für die Welle der Atemwegserkrankungen seien die Nachwirkungen der Corona-Pandemie, berichtet Dr. Nike Strobelt, Sprecherin des Kinder- und Jugendärztenetzes Münster. „Durch die Pandemie wurden die Kinder nicht mehr mit den ‚normalen‘ Krankheitserregern konfrontiert, teilweise fehlt ganzen Jahrgängen ein Immungedächtnis. Außerdem hatten sehr viele Kinder und Jugendliche bereits Corona, was das Immunsystem vermutlich selbst anfälliger macht. Das heißt, sämtliche Krankheitserreger treffen gleichzeitig auf besonders viele anfälligere Kinder und Jugendliche. Das macht die Praxen voll, und wir verschieben sogar U-Untersuchungen oder lassen sie teils ausfallen.“

Pflegekräfte fehlen

Verschärft werde diese Situation durch grundlegende Defizite: „Durch den jahrelangen betriebswirtschaftlichen Druck, der auf den Kinder- und Jugendkliniken lastete, sind die vorhandenen Teams in den Jahren der Pandemie weit über ihre Leistungsfähigkeit gegangen. In der Folge haben insbesondere Pflegekräfte den klinischen Betrieb verlassen“, sagt Jörg Dötsch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Hinzu kommen unter anderem Lieferschwierigkeiten bei einigen Medikamenten. Neben fiebersenkenden Mitteln seien auch einige Antibiotika knapp, erfährt Strobelt in ihrer Praxis und fasst die Lage zusammen: „Eine absolute Katastrophe.“

Dötsch, Direktor der Kinderklinik an der Uniklinik Köln, fordert nachhaltige Investitionen in die Kinder- und Jugendmedizin. Ebenso gehe es darum, Pflege- und andere Fachkräfte, die den Beruf gewechselt haben, wieder in die Kliniken und Praxen zurückzuholen. Kritisiert wurde von den Kinder- und Jugendärzten insbesondere die Abschaffung der Ausbildung für die Kinderkrankenpflege. Die Änderung der Ausbildungsordnung habe den Pflegemangel „eklatant befördert“, beobachtet Omran. „Das UKM plant deshalb ab August 2023 die Wiedereinrichtung des Ausbildungsgangs einer spezialisierten Kinderkrankenpflege. Das ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.“

wsp

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