Eine Region, viele Hürden
Die westfälischen Regionen konkurrieren um Fachkräfte. Mehr Vernetzung und Zusammenarbeit wären die bessere Alternative.
Bei einem Weltmarktführer im Sauerland arbeiten, das wollen viele gerne. Für einen neuen Job ins Sauerland umzuziehen, dazu sind Bewerber aus anderen Regionen allerdings nicht unbedingt bereit. Das erlebte Peter Schöler, Personalchef beim Attendorner Industrieunternehmen Viega, in Gesprächen mit potenziellen Mitarbeitern immer wieder. Gerade im IT-Bereich war es für ihn schwierig, Personal zu finden, das bereit war, die vielfältigen Angebote einer Großstadt wie Köln oder Dortmund gegen ein Leben zwischen grünen Hügeln zu tauschen. Nach einer Analyse des Arbeitsmarktes traf das Unternehmen 2016 daher eine pragmatische Entscheidung und richtete einen Bürostandort in Dortmund ein, wo es durch die Nähe zur Technischen Universität besonders viele Informatiker gibt. Zusätzlich fährt seitdem ein Bus zwischen Köln und Attendorn, der bis zu 25 Viega-Mitarbeiter aus der Domstadt vier Mal pro Woche morgens zur Unternehmenszentrale und nachmittags zurück ins Rheinland bringt. Wer mag, kann im Bus schon Arbeit erledigen oder auch etwas Schlaf nachholen.
Bus-Shuttle zwischen Köln und Attendorn
Das Angebot, mit Unterstützung des Arbeitgebers nach Südwestfalen zu pendeln, sei in Bewerbergesprächen ein wichtiger Faktor, sagt Peter Schöler. Viega-Mitinhaber Walter Viegener begründet die Entscheidung für den Einsatz des Busses klar: Wenn die Kölner Wert darauf legen, täglich den Dom zu sehen, dann sollten sie eben in der Stadt wohnen bleiben, sagte der Unternehmer bei einer Veranstaltung 2017 und fügte hinzu: „Aber arbeiten sollen sie trotzdem bei uns.“
Qualifiziertes Personal und Nachwuchskräfte zu finden, ist eines der drängendsten Probleme in den ländlichen Regionen und auch in einigen Städten Westfalens. 2018 stand dieses Thema im Mittelpunkt der Studie „Eine Region, viele Aussichten – Wie der demografische Wandel Westfalen fordert“ des Berlin-Instituts, die von der Westfalen-Initiative und dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe gefördert wurde. Eine wichtige Erkenntnis fasst Institutsleiter Reiner Klingholz zusammen: „In Westfalen sehen wir, dass wirtschaftlich erfolgreiche Regionen mit guten Arbeitsmöglichkeiten nicht automatisch auch junge Menschen halten oder gewinnen können.“ Stattdessen müssten Unternehmen, aber auch Städte und Regionen kreativ werden und Strategien für die Zukunft entwickeln.
Matthias Löb, Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, nahm die Studie zum Anlass für ein Plädoyer für mehr Zusammenarbeit in Westfalen. Kommunen, aber auch Unternehmen, Hochschulen und andere Einrichtungen könnten nicht nur von ihren nächsten Nachbarn, sondern auch von entfernten Verwandten lernen. „Das klingt überraschend, aber auch Städte, die aneinandergrenzen, haben oft unterschiedliche Probleme. Umgekehrt ähnelt eine Gemeinde 100 Kilometer entfernt in der Interessenlage der eigenen Stadt mehr als gedacht“, sagte Löb im November im Landschaftsausschuss in Münster.
Regionen werden zur Marke
In den vergangenen Jahren haben die Regionen jedoch in erster Linie Lobbyarbeit in eigener Sache betrieben: Ob in Südwestfalen („Alles echt“) oder im Ruhrgebiet („Stadt der Städte“): Werbekampagnen flankieren die eigene Marke und forcieren den Wettbewerb mit anderen Regionen. Längst geht es dabei nicht mehr nur um Urlauber, vielmehr stehen Fachkräfte, Unternehmer und künftige Einwohner als Zielgruppen im Fokus.
Ein Vorreiter in Sachen regionaler Markenbildung ist die Ostwestfalen-Lippe GmbH mit Sitz in Bielefeld. Vor rund 25 Jahren wurde die „Gesellschaft zur Förderung der Region“ gegründet. Eines der Aushängeschilder ist das Technologienetzwerk „It’s OWL“, zurzeit wird außerdem auf die Regionale 2022 unter dem Motto „Das neue Urbanland“ hingearbeitet. „Wir haben in Abgrenzung zu anderen Regionen unser Profil geschärft und die Marke OWL entwickelt. Das stellen wir heraus“, sagt Herbert Weber, Geschäftsführer der OWL GmbH.
Trotzdem spricht er von einer „Solidargemeinschaft der Regionen“ und „einem Kräftebündeln, da wo es Sinn macht“. In Kooperation mit der Südwestfalen Agentur und dem Verein Münsterland soll bald eine Studie entstehen mit der Fragestellung, wie junge Menschen dafür begeistert werden können, sich in ländlichen Regionen niederzulassen. „Diese Herausforderung betrifft nicht nur Ostwestfalen-Lippe. Daher arbeiten wir hier zusammen. Nichtsdestotrotz sollen sich schließlich viele junge Menschen für unsere Region entscheiden“, stellt Weber klar. Das Münsterland entwickelt derzeit eine Markenstrategie. Drei wichtige Projekte wurden bereits präsentiert; eines davon, „Onboarding@Münsterland“, dreht sich um das Thema Fachkräftemarketing. Ziel des umfassenden Programms ist es, ein klares und positives Profil für die Region zu entwickeln, so dass das Münsterland im Wettbewerb mit anderen Regionen bestehen kann. Potenzielle Arbeitskräfte und Investoren sollen aufmerksam werden.
Weiter südlich wird ebenfalls in eigener Sache getrommelt. Seit 2008 arbeitet die Südwestfalen Agentur daran, dass die Region von der Soester Börde über das Sauerland bis nach Wittgenstein als Südwestfalen wahrgenommen wird. Mehr als 20 Südwestfalen-LKW fahren inzwischen durch Deutschland, es gibt Bewerberpools und ein „Gap Year“-Programm für Nachwuchskräfte. Wichtig auch hier: gut ausgebildete Menschen locken. Denn nicht nur IT-Spezialisten werden dringend gesucht, sondern auch Fachkräfte für die Industrie und Mitarbeiter in Hotels und Gaststätten.
Die Hürden, von der Großstadt in die südwestfälischen Landkreise zu ziehen, sind aber offenbar hoch. So versuchte die Industrie- und Handelskammer Siegen, junge Menschen aus Wuppertal und Dortmund für eine betriebliche Ausbildung in die Region Siegen-Wittgenstein zu lotsen. Wohnmöglichkeiten und Zuschüsse sollten helfen, potenzielle Azubis anzuwerben. Als Ergebnis zählte die IHK lediglich zwei abgeschlossene Lehrverträge – und das Projekt war damit beendet.
Die Münsteraner Regierungspräsidentin Dorothee Feller spricht angesichts solcher Erfahrungen von unsichtbaren Grenzen. Selbst in Dorsten aufgewachsen, beschreibt sie eine spürbare Trennlinie zwischen der Emscher-Lippe-Region und dem Münsterland. „Es gibt diese Grenze in den Köpfen vieler Menschen: Wer diesseits der Lippe wohnt, orientiert sich in Richtung Münsterland, wer auf der anderen Seite wohnt, eher zum Ruhrgebiet. Das weiß ich als gebürtige Dorstenerin aus eigener Erfahrung. Außerdem gibt es nur wenige öffentliche Busverbindungen über den Fluss.“ Eine Folge: Fachkräfte aus dem Ruhrgebiet tun sich oft schwer damit, für einen Job ins Münsterland zu pendeln, obwohl es dort Arbeitsplätze gibt. Ähnlich ist die Situation in Südwestfalen und dem Ruhrgebiet sowie in Ostwestfalen und dem Münsterland: Zugverbindungen zwischen den Regionen sind langsam, umständlich und verspätungsanfällig, Autobahnen dauerverstopft und Landstraßen führen nur über Umwege zum Ziel.
Projekt „Stream UP“ startet in Dortmund
Der Wirtschaftswissenschaftler Dr. Ronald Kriedel, Geschäftsführer des Centrums für Entrepreneurship & Transfer an der Technischen Universität Dortmund, bestätigt diesen Eindruck, er setzt sich jedoch dafür ein, die Hürden zu überwinden. Sein Ziel: Start-ups aus dem Dortmunder Raum mit südwestfälischen Unternehmen zusammenzubringen. „Dort gibt es zahlreiche kleine und mittelständische Unternehmen, denen noch unklar ist, wie sie die Digitalisierung umsetzen. Sie brauchen Beratung und Unterstützung. Hier gibt es ein riesiges Potenzial, das wir nur gemeinsam erschließen können“, begründet Kriedel. In dem Projekt „Stream Up“ vernetzt das Centrum mit den Kooperationspartnern junge und etablierte Firmen aus beiden Regionen, um neue Geschäftsmodelle rund um das Thema Mobilität zu entwickeln. Die Resonanz sei auf beiden Seiten gut, der Erfolg aber an ein paar Bedingungen geknüpft, so der Forscher: „Als Universität positionieren wir uns als unabhängiger Berater und begegnen den Partnern auf Augenhöhe. Wichtig ist uns, nicht nur in Dortmund, sondern auch in Regionen wie beispielsweise Arnsberg, Menden und Meschede mit Büros, Ansprechpartnern und Veranstaltungen gemeinsam mit unseren Partnern präsent zu sein. Wir haben kein Problem zu teilen.“ Einen ähnlichen Fokus hat das Projekt „Digitaler Brückenschlag“. Hier haben sich die Südwestfalen Agentur und die Wirtschaftsförderung Dortmund das Ziel gesetzt, die Industrieunternehmen mit Dortmunder IT-Kräften zu vernetzen, um die Digitalisierung erfolgreich zu meistern. Den Anstoß zum Projekt gab die Erkenntnis, dass viele IT-Studierende nicht wissen, dass südwestfälische Unternehmen zahlreiche Arbeitsplätze bieten.
Ein kontinuierliches Engagement für Westfalen gibt es dagegen nur an wenigen Stellen. Nachdem sich 2016 ein breiter Protest gegen den Landesentwicklungsplan der damaligen Landesregierung erhob – der Westfalen neben den „Metropolregionen Ruhrgebiet und Rheinland“ nicht berücksichtigte – flaute der Einsatz ab. Die Regionalräte der Bezirksregierungen Arnsberg, Detmold und Münster treffen sich seitdem einmal jährlich, öffentlich wird das aber nur wenig wahrgenommen. Und wenn es darum geht, an welchen Bahnhöfen der ICE Richtung Berlin in Zukunft halten soll, dann kämpfen Städte, Regionen und IHKs in der Regel für sich selbst, anstatt als Westfalen vereint aufzutreten.
LWL-Direktor Matthias Löb setzt auf eine feste Runde aus Vertretern westfälischer Institutionen, um in solchen Fällen schneller miteinander sprechen und handeln zu können. Projekte wie die „Kulturkonferenz Westfalen“, bei der jedes Jahr in unterschiedlichen Städten Politiker, Künstler und andere Kulturakteure zusammenkommen, sieht er als Vorbild. Als weiteres Instrument ist ein gemeinsames Statistikportal für Westfalen geplant. Das Projekt des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe sowie der Bezirksregierungen soll dazu beitragen, verlässliche Daten zu Bevölkerung, Wirtschaft und weiteren Themen zu liefern.
Dorothee Feller organisiert in diesem Jahr gemeinsam mit den Bezirksregierungen in Arnsberg und Detmold eine Zukunftsmesse für kleine und mittlere Städte in Westfalen. Das Forum soll Kommunen mit kleinen Verwaltungen unterstützen, sich über Themen wie den Klimawandel, E-Government oder auch attraktive Innenstädte auszutauschen. Die Regierungspräsidentin denkt pragmatisch, wenn es um solche Projekte geht und plädiert für eine Allianz der Willigen: „Wir müssen uns in Westfalen vernetzen, denn wir stehen vor ähnlichen Herausforderungen. Aber wenn wir warten, bis alle davon überzeugt sind, dann dauert es lange. Es gibt viele, die besser zusammenarbeiten wollen, und die sollten anfangen. Dann werden sich auch andere anschließen.“
Annette Kiehl / WSP
Ein Artikel aus dem WESTFALENSPIEGEL 02/2019