LWL-Direktor Dr. Georg Lunemann. Foto: LWL/Kapluggin
02.06.2025

„Eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“

Im Interview spricht LWL-Direktor Dr. Georg Lunemann über steigende Ausgaben für Soziales und die Auswirkungen auf die kommunale Finanzkrise.

Herr Dr. Lunemann, die Kosten für Teilhabeleistungen für Menschen mit Behinderung sind deutlich gestiegen. Aus welchen Gründen?
Die Sozialausgaben der Kommunen insgesamt sind in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen und auch die Kosten der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung steigen kontinuierlich. Die Bruttoausgaben der Eingliederungshilfe haben von 2005 bis 2023 bundesweit von 11,3 auf 26,2 Milliarden Euro zugelegt. 6,6 Milliarden Euro entfallen dabei auf Nordrhein-Westfalen. Im Jahr 2023 erhielten rund 855.000 Menschen bundesweit Leistungen der Eingliederungshilfe. Damit hat sich die Zahl seit 2005 (470.000) fast verdoppelt. Eine Rolle dabei spielt, dass die Lebenserwartung von Menschen mit wesentlichen Behinderungen steigt. Mit höherem Alter benötigen jedoch mehr Personen mit Behinderung im pflegerischen Bereich Unterstützung. Auch die Zahl der Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen nimmt seit Jahren stark zu, sodass insgesamt immer mehr Menschen Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe haben. 

Mehr Menschen mit herausforderndem Verhalten

Auch die Kosten bei den einzelnen Fällen nehmen zu.
Das ist richtig. Bei den Kosten der Eingliederungshilfe handelt es sich um bis zu 85 Prozent um Personalkosten. Allein der LWL finanziert über die Eingliederungshilfe etwa 50.000 Beschäftigte in der Freien Wohlfahrtspflege. Auch aufgrund der hohen Inflation war die tarifliche Entwicklung in den vergangenen Jahren sehr dynamisch. Diese Steigerungen schlagen sich auch im Rahmen der Entgeltvereinbarungen zwischen den Kostenträgern, also auch dem LWL, und den Leistungserbringern nieder. Die Anbieter der Eingliederungshilfe haben in NRW eine sehr hohe Tarifbindung. Ich möchte deutlich machen, dass die strukturelle Aufwertung der Sozial-, Erziehungs- und Pflegeberufe wichtig und richtig ist, um weiterhin die Versorgung der Menschen mit Behinderungen gewährleisten zu können. Dennoch gehen damit auch erhebliche Kostensteigerungen einher. Neben diesen Entwicklungen lässt sich auch feststellen, dass immer mehr Menschen mit besonders herausforderndem Verhalten ins System kommen. Diese Menschen benötigen teilweise individuelle Hilfestrukturen, welche besonders teuer sind.

Welche Rolle spielen gesetzliche Anforderungen?
Ein wichtiger Meilenstein war die Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention. Diese ist seit 2009 in Deutschland in Kraft und unterstreicht das Recht aller Menschen, ungeachtet ihrer Behinderung an der Gesellschaft teilzunehmen, und fordert die Umsetzung von Maßnahmen zur Gewährleistung der vollen Inklusion als zentralem Ziel moderner Behindertenpolitik. Mit dem im Jahr 2016 beschlossen Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen wurde die Eingliederungshilfe daher zu einem modernen Teilhaberecht weiterentwickelt. Damit gingen zahlreiche Änderungen einher, die die Lebenssituation und die Unterstützung von Menschen mit Behinderungen maßgeblich verbessern sollen. Das hat zu großen Veränderungen bei den Leistungsträgern und Leistungserbringern vor Ort geführt. Die Eingliederungshilfe hat sich in den vergangenen Jahrzehnten weg von der Exklusion und behütender Fürsorge hin zu einem inklusiven Ansatz entwickelt, der darauf abzielt, gleiche Rechte und Chancen für alle Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten, unabhängig von ihrer körperlichen, geistigen oder seelischen Verfassung. 

Der LWL bietet Förderungen für schwerbehinderte Beschäftigte sowie deren Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. Foto: LWL

Der LWL bietet Förderungen für schwerbehinderte Beschäftigte sowie deren Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. Foto: LWL

Ein weiteres Ziel des Bundesteilhabegesetzes ist es, die Entwicklung bei den Ausgaben zu bremsen.
Das ist richtig. Bisher ist jedoch nicht erkennbar, dass der Anstieg gebremst werden konnte. Stattdessen hat dieses Gesetz eine neue Ausgabedynamik ausgelöst. Das mit der Untersuchung der jährlichen Einnahmen und Ausgaben bei den Leistungen der Eingliederungshilfe vom Bundessozialministerium beauftragte Institut hat die finanziellen Auswirkungen überprüft und kommt zu dem Ergebnis, dass die durch das Gesetz bedingte Mehrbelastung der Träger der Eingliederungshilfe für die Jahre 2017 bis 2023 bei rund 1,8 Milliarden Euro bundesweit liegt. Schließlich führen weitere gesetzliche Anforderungen unter anderem aus dem Wohn- und Teilhabegesetz NRW und der Werkstättenverordnung dazu, dass bestimmte Fachkraftquoten und weitere Qualitätsforderungen einzuhalten sind und die Kosten steigen. All diese Gründe lassen sich von den Leistungsträgern, zu denen der LWL gehört, kaum beeinflussen, sodass die Steuerungsmöglichkeiten sehr begrenzt sind.

Kommunen finanzieren die Eingliederungshilfe

Werden diese Mehrkosten vom Bund finanziert?
Die Eingliederungshilfe ist eine sogenannte pflichtige Selbstverwaltungsaufgabe, zu deren Ausführung die Landschaftsverbände als Träger bestimmt wurden. In NRW wird die Eingliederungshilfe im Gegensatz zu anderen Flächenländern fast ausschließlich durch die Kommunen finanziert. Außerhalb des kommunalen Finanzausgleichs gibt es keine Kostenbeteiligung durch das Land NRW. Eine Umfrage der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe zum Anteil der Kommunen an der Finanzierung der Eingliederungshilfe hat ergeben, dass einige Bundesländer sich deutlich stärker an den Eingliederungshilfekosten als NRW beteiligen. Ich finde das zeigt, dass eine gerechtere Verteilung der Kosten der Eingliederungshilfe als gesamtgesellschaftliche Aufgabe durchaus möglich ist.

Was wird getan, um das zu erreichen?
Bereits im Jahr 2002 haben sich die Landschaftsverbände für eine Beteiligung des Bundes an den Kosten der Eingliederungshilfe mit einer Resolution stark gemacht. Im Rahmen des Entwicklungsprozesses des Bundesteilhabegesetzes wurde die Fallzahl- und Fallkostenentwicklung in der Eingliederungshilfe im Rahmen eines Bund-Länder-Diskurses thematisiert. In diesem Diskurs haben die Länder verdeutlicht, dass die Eingliederungshilfe eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist und sich daher der Bund auch an den Kosten beteiligen müsse. Im Koalitionsvertrag hatten CDU, CSU und SPD im Jahr 2013 in Aussicht gestellt, die Ausgabendynamik in der Eingliederungshilfe zu verhindern und die Haushalte der Kommunen jährlich mit fünf Milliarden Euro zu entlasten.

Gibt es nun eine tragfähige Lösung?
Im Sommer 2016 haben sich Bund und Länder auf eine solche Lösung geeinigt. Problematisch dabei ist aber, dass die fünf Milliarden Euro Bundesentlastung seit 2018 auf dem damals festgelegten Niveau verharrt, während die Sozialausgaben der Kommunen und dabei insbesondere die Kosten der Eingliederungshilfe weiter steigen. Hinzu kommt, dass die Entlastung nicht direkt bei den Trägern der Eingliederungshilfe ankommt, sondern die Träger nur indirekt davon profitieren. Seitdem hat es zahlreiche Initiativen von den Landschaftsverbänden und weiteren Akteuren gegeben, um auf die dynamische Entwicklung der Kosten der Eingliederungshilfe hinzuweisen und Bund und Länder aufzufordern, sich verstärkt an der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe zu beteiligen.

Gibt es Aussicht, dass die neue Bundesregierung die Kommunen bei der Finanzierung dieser Aufgabe entlastet?
Der aktuelle Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD mit dem Titel „Verantwortung für Deutschland“ ist 144 Seiten lang und enthält auch sozialpolitisch relevante Aussagen mit Bezug zur Eingliederungshilfe, Inklusion und Pflege. Der Vertrag enthält grundsätzlich gute Anknüpfungspunkte: den Abbau bürokratischer und rechtlicher Hürden, die evaluationsbasierte Weiterentwicklung des Bundesteilhabegesetzes unter Beteiligung von Ländern und Kommunen sowie die Klärung des Verhältnisses zwischen Eingliederungshilfe und Pflege. Konkrete Aussagen zu den dringend notwendigen finanziellen Entlastungen oder strukturellen Reformen in der Eingliederungshilfe fehlen jedoch. Insgesamt bleibt der Koalitionsvertrag damit in wesentlichen Punkten vage. Es liegt nun an allen Akteuren, weiterhin auf die Thematik aufmerksam zu machen, damit die finanzielle Belastung der Kommunen durch steigende Kosten in der Eingliederungshilfe ein zentrales Thema bleibt und konkrete Lösungsansätze zwischen Bund, Ländern und Kommunen entwickelt werden.

Was bräuchte es, um die Eingliederungshilfe zukunftsfest aufzustellen?
Die Landschaftsversammlung Westfalen-Lippe hat bereits 2022 eine Resolution beschlossen, in der sie das Land NRW und der Bund auffordert, sich an einer angemessenen Finanzierung der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe zu beteiligen. Auch das Land NRW hat einen Entschließungsantrag zur „Entlastung der Kommunen bei den Kosten der Eingliederungshilfe“ in den Bundesrat eingebracht. In diesem Antrag wird die Aufstockung und Dynamisierung der fünf Milliarden Euro Bundesentlastung gefordert. Es gibt zudem weitere Faktoren, um die Eingliederungshilfe zukunftsfest aufzustellen: CDU, CSU und SPD wollen das Verhältnis zwischen dieser Leistung und der häuslichen Pflege klären. Hier kommt es in der Praxis häufig zu Überschneidungen. Eine klare gesetzliche Regelung würde bestehende Zuständigkeitskonflikte auflösen und allen pflegebedürftigen Menschen den gleichberechtigten und vollen Zugang zu den von ihnen beitragsfinanzierten Leistungen der Pflege ermöglichen.


Mehr zur hohen Verschuldung der Kommunen lesen Sie in Heft 3/2025 des WESTFALENSPIEGEL. Möchten Sie mehr lesen? Gerne senden wir Ihnen zwei kostenlose Ausgaben unseres Magazins zu. Hier geht es zum Schnupperabo.


Welche weiteren Themen drängen?
Das Bundesteilhabegesetz zeigt in der Umsetzung einige Schwächen. Beim LWL hat sich beispielsweise der Verwaltungsaufwand im Bereich der Eingliederungshilfe zur Umsetzung des Gesetzes verdoppelt – allein für diesen Zweck wurden im Verband zwischen 2018 und 2025 über 360 neue Stellen geschaffen. Auch wenn der Verwaltungsaufwand nur zwei Prozent der Gesamtausgaben in der Eingliederungshilfe beträgt, zeigt dieses Beispiel, dass die gesetzlichen Regelungen weniger bürokratisch werden müssen, um beschränkte Personalressourcen weiterhin effizient einzusetzen. Dies gilt umso mehr angesichts des zunehmenden Fach- und Arbeitskräftemangels. Wir müssen uns ehrlich mit diesen Problemen auseinandersetzen.

Interview: Annette Kiehl, wsp

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