„Erinnern kann man nicht von oben verordnen“
Im Interview mit dem WESTFALENSPIEGEL spricht LWL-Direktor Matthias Löb über den Beitrag seines Verbands zur Erinnerungskultur und die Pläne für eine Gedenkstätte im ehemaligen Kriegsgefangenenlager Stalag 326 in Schloss Holte Stukenbrock.
Gibt es eine persönliche Verbindung mit dem Thema?
Ausgrenzung von Andersdenkenden oder anders aussehenden Menschen ist ein Thema, das mich schon immer sehr stark beschäftigt hat. Wie kann es sein, dass ganz normale Menschen, die vielleicht auch Mozart gehört oder sich an Kunst erfreut haben, zu unfassbaren Gemeinheiten und Grausamkeiten in der Lage waren oder sind?
Sie betonen die hohe Bedeutung von Erinnerungskultur auch für die Probleme der Gegenwartsgesellschaft. Welchen Beitrag leistet hier der LWL?
Beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe arbeiten unterschiedliche Kulturinstitutionen, die sich mit dem Thema Erinnerungskultur aus historischer, aber auch aus archäologischer oder medienwissenschaftlicher Perspektive beschäftigen, interdisziplinär zusammen. Das garantiert großen Sachverstand und ist natürlich eine Chance.
Inwiefern?
Wir wollen zum einen durch Forschung das Wissen um Geschichte, vor allem für den Zeitraum 1933 bis 1945, verbreitern und vertiefen, also gesichertes Wissen für die Gegenwart bereitstellen. Zum anderen hält der LWL in seinen eigenen Einrichtungen viele Formate bereit, die dieses Wissens vermitteln. So erstellt unser Medienzentrum über die NS-Zeit Unterrichtsmaterialien und Filme, die auch junge Menschen ansprechen und sehr gut angenommen werden. Ebenso wie unser Online-Portal „Westfälische Geschichte“, das vielfältige Hintergrundinformationen liefert. Und zum Dritten unterstützt der LWL über sein Museumsamt die westfälischen Gedenkstätten und Erinnerungsorte mit Beratung wie auch finanziell.
Was bedeutet das konkret?
Ab diesem Jahr wird der LWL die westfälischen NS-Gedenkstätten und Erinnerungsorte mit 250 000 Euro pro Jahr unterstützen. Zusätzlich werden wir bis 2024 Bau- und Einrichtungsmaßnahmen mit jährlich 150 000 Euro fördern. Und ich freue mich sehr, dass unser Mobilitätsfond, der für unsere Museen sehr gut greift, zum 1. Januar erweitert wurde und jetzt auch Fahrten zu Erinnerungsorten und Gedenkstätten ermöglicht. So können Kinder und Jugendliche die authentischen Geschichtsorte besuchen, sich hier mit der Vergangenheit befassen, und für die Zukunft lernen. Dafür hat unser Verband noch einmal 100.000 Euro zusätzlich zur Verfügung gestellt, und ich bin zuversichtlich, dass wir auf diesem Weg weitergehen.
Im Frühjahr 2019 hat der LWL Untersuchungsergebnisse zu den NS-Verbrechen an Zwangsarbeitern im Sauerland vorgestellt. Das Verbrechen ist seit 1945 bekannt, die historische Forschung beschäftigt sich aber erst seit den 1990er Jahren mit dem Massaker. Warum so spät?
Je dichter das Verbrechen an den Menschen dran war, desto länger dauert erfahrungsgemäß die Aufarbeitung. Als die Menschen, die in irgendeiner Form in die Verbrechen im Arnsberger Wald involviert waren, noch lebten, tat man sich mit der Aufarbeitung schwer. Das ist überall zu beobachten. Bei unserem eigenen Verband haben wir selbst erst Anfang der 1980er Jahre damit angefangen, die NS-Geschichte unserer psychiatrischen Anstalten systematisch aufzuarbeiten. Und als Vorsitzender des Westfälischen Heimatbundes kenne ich Heimatvereine, die Filmkonserven aus dieser Zeit unter sorgfältigen Verschluss halten müssen, weil es bislang keinen Konsens drüber gibt, sie öffentlich zugänglich zu machen. Ich kenne aber auch Firmen, die ihre Archive nicht öffnen aus lauter Angst, dass ehemaligen leitenden Mitarbeitern oder auch den Firmenpatriarchen selbst persönliche Verfehlungen nachgewiesen werde könnten.
Gibt es bei dem Thema ein Stadt-Land-Gefälle?
Ja, das kann man so sagen. Die meisten Hot-Spots der Erinnerungsarbeit sind in den großen Städten zu finden, in den ländlichen Gebieten dauert die Aufarbeitung länger. Hier hatten die Verbrechen oft auch nicht diese Dimension, aber sie kamen natürlich vor. Zwangsarbeit beispielsweise war ein alltägliches Phänomen auf vielen westfälischen Bauernhöfen.
Zurzeit engagiert sich Ihr Verband beim Thema Erinnerungskultur besonders stark. Eines der wichtigsten Projekte ist das ehemalige Kriegsgefangenenlager Stalag 326 in Schloss Holte Stukenbrock. Warum geht der LWL das Thema an?
Das Strafgefangenenlager ist in mehrfacher Hinsicht einzigartig. Stalag 326 gilt als das größte Lager für sowjetische Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg auf deutschem Boden. Eine Gedenkstätte würde eine Lücke der deutschen NS-Erinnerungsorte füllen. Hier lässt sich überdies anhand vieler Einzelschicksale die Geschichte der Zwangsarbeit in unserer Region anschaulich erzählen: Das Stalag 326 war zum Beispiel die „Drehscheibe“ für die Vermittlung von Zwangsarbeitern in die Zechen und Stahlwerke des Ruhrgebietes.
Wie sieht der Zeitplan aus?
Wir sind momentan dabei, einen Antrag für die Umwandlung des Ortes in eine Gedenkstätte von nationaler Bedeutung zu erarbeiten. Diese Vorphase wird überwiegend vom Land NRW finanziert. Unser Ziel ist, bis zum Sommer 2020 diesen Förderantrag in Richtung Land und Bund formuliert zu haben. Und dann werden wir uns in unserer Region umschauen, wer als potenzieller Träger in Betracht kommt. Natürlich hat man auch da gewisse Hoffnungen in Richtung LWL, aber das wäre zunächst im Verband politisch zu diskutieren. Auch Kreis und Stadt sind an der Stelle sicherlich gefragt.
Über die Trägerschaft wird im Laufe des Jahres entschieden?
Es wird zumindest ein Vorschlag erarbeitet, denke ich. Wenn es dann darum geht, wie diese Erinnerungsstätte betrieben werden soll, wird man sicherlich auch eine Erwartungshaltung gegenüber dem LWL formulieren.
Welche Rolle spielt dann noch der Förderverein, der sich seit vielen Jahren, anfangs auch gegen heftigen Widerstand in der Bevölkerung, für Stalag 326 als Gedenkstätte einsetzt?
Der Förderverein wird und muss auch künftig eine wichtige Rolle spielen, egal in welcher Form wir diese Erinnerungsstätte aufstellen können. Denn Gedenken, Erinnern kann man nicht von oben verordnen, das lebt von den Menschen vor Ort. Ehrenamtliches Engagement, Vernetzung in die Region, das kann nicht in erster Linie die öffentliche Hand leisten, das leisten ehrenamtliche Strukturen wie dieser Förderverein.
Aktuell gibt es in der Gedenkstättenszene Westfalens eine große Dynamik. Der LWL kann aber nicht alles, was erinnerungswürdig erscheint, in gleicher Weise unterstützen.
Generell muss man sagen, dass unsere Erinnerungslandschaft in Westfalen nicht durch die ganz großen „Tanker“ geprägt ist, sondern durch viele kleine Erinnerungsstätten, die überwiegend ehrenamtlich betrieben werden. Dem müssen wir natürlich mit unserer Förderpolitik Rechnung tragen. Gleichzeitig wollen wir keine Förderung mit der Gießkanne machen. Wir haben zwei klare Kriterien: Zum einen können wir nur auf der Basis gesicherten Wissens Erinnerungsarbeit leisten, und das setzt ein Mindestmaß an wissenschaftlicher Erforschung voraus. Ebenso wichtig ist uns die Vermittlungsarbeit: Wie können wir in zeitgemäßer Form junge Menschen erreichen, die zukünftig nicht einmal mehr die Möglichkeit haben werden, mit Zeitzeugen zu sprechen? Und die auch ganz andere Formen von Rezeption gewohnt sind. Erinnerungsarbeit ist dann zeitgemäß, wenn sie sich nicht in Ritualen erschöpft, sondern zum Denken anregt.
„Wir sind Erinnerungsweltmeister“, sagt der Althistoriker Christian Meier. Er sieht eher die Gefahr, die Menschen mit einem Zuviel an Gedenk- und Erinnerungskultur nicht mehr erreichen zu können. Wie ist Ihre Einschätzung?
Ich kann ein Zuviel an Erinnerungskultur nicht feststellen. Sich vor Ort zu erinnern, ist etwas ganz anderes als im Fernsehen eine Dokumentation über die großen NS-Verbrecher zu sehen. Das, was unmittelbar vor der eigenen Haustür passiert ist, berührt die Menschen ganz anders.
Interview: Klaudia Sluka
Dieser Beitrag stammt aus Heft 1/2020 des WESTFALENSPIEGEL. Zur Inhaltsübersicht gelangen Sie hier.
Die komplette Serie „Erinnerungsorte“ lesen Sie hier.