„Erschütternde Berichte“
Eine Tagung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe hat eine Zwischenbilanz zur Aufarbeitung von Kinderverschickung in NRW gezogen.
30 Fachleute diskutierten in Münster den Stand der historischen Forschung der sogenannten Kinderverschickung. Von 1949 bis 1990 wurden mehr als 2,1 Millionen Kinder in Nordrhein-Westfalen in Kurheime verschickt mit der Absicht, die Gesundheit zu stärken. In den Heimen herrschte jedoch oft ein autoritärer Erziehungsstil. Durch Zucht und Ordnung sollten Kurziele wie etwa eine Gewichtszunahme erreicht werden. In den vergangenen Jahren wurden auch zahlreiche Vorwürfe ehemaliger Kurkinder über Misshandlungen, Demütigungen, Lieblosigkeit und unmenschliche Erziehungsmethoden in den Heimen laut.
Rolle des LWL
„Wir sind sehr daran interessiert aufzuklären, was damals in diesen Heimen geschehen ist. Wir wollen die teilweise erschütternden Berichte von Betroffenen um schriftliche Quellen ergänzen“, sagt LWL-Direktor Dr. Georg Lunemann. „Wenn dort Kinder traumatisiert wurden, hat sich der Sinn dieser Kinderkuren auf schreckliche Weise ins Gegenteil verkehrt.“
Der Verband war in mehreren Rollen an der Kinderverschickung beteiligt: Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm der Vorläufer des LWL, der Provinzialverband Westfalen, dann der LWL ab 1953, mit der sogenannten „Ausgleichsstelle“ die Logistik der Beförderung und die Verteilung der Kinder auf die damaligen Heime. Zeitweise hatten die Landesjugendämter, angesiedelt beim LWL und Landschaftsverband Rheinland, auch die Aufsicht über bestimmte Standorte. Außerdem betrieb der LWL nach dem Zweiten Weltkrieg für kurze Zeit selbst Heime in Bad Laasphe und Westernkotten, in Bad Waldliesborn bis in die 1960er Jahre.
Offene Forschungsfragen
Die Verschickungskinder standen als Betroffene im Mittelpunkt der Fachtagung. Dabei ging es unter anderem um die Kinderverschickung aus historischer Perspektive und als globales Phänomen. Auch der Medikamentenmissbrauch in Kuren war Thema in Vorträgen und Diskussionen. Der Historiker Dr. Jens Gründler vom LWL-Institut für Westfälische Regionalgeschichte sieht einige wichtige Forschungsfragen für die Zukunft: „Wir haben heute viele Erkenntnisse über einzelne Heime und auch zu Orten, wie beispielsweise Bad Sassendorf, wo es ein Netzwerk von Heimen gab. Wichtig ist nun, diese zusammenzuführen, Leerstellen in der Forschung zu benennen und dann die Ergebnisse im Zusammenhang der bundesrepublikanischen Gesellschaft der 1950er und 60er Jahre als Blütezeit der Kuren einzuordnen.“
Eine Wanderausstellung des LWL zu „Kinderkuren in Westfalen“ widmet sich ab dem Frühjahr 2025 dem Thema. Ausstellungsmacher Dr. Hauke Kutscher vom LWL-Museumsamt für Westfalen sucht dazu nach Objekten, Fotos und Geschichten sowie Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Wer Interesse hat, mit seinen Objekten und Geschichten Teil der Ausstellung zu werden, kann sich mit dem LWL-Museumsamt in Verbindung setzen unter Telefon 0251/5914663 oder per E-Mail an hauke.kutscher@lwl.org.
aki, wsp