Judith Neuwald-Tasbach, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen. Foto: Jürgen Bröker/wsp
17.12.2021

„Es gab sehr gute Begegnungen“

2021 wurden 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland gefeiert. Mit der Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen, Judith Neuwald-Tasbach, ziehen wir ein Fazit.

1700 Jahre jüdisches Leben – das Festjahr geht zu Ende, wie fällt Ihr Fazit aus?
Auch wenn Corona dazu geführt hat, dass nicht alle Veranstaltungen stattfinden konnten, war es doch ein wunderbares und ausgewogenes Programm. Es hat dazu geführt, dass viele Menschen, die sich sonst nicht mit diesem Thema beschäftigen, einen Einblick in die jüdische Kultur, den jüdischen Alltag bekommen haben. Und das auf sehr unterschiedliche Art und Weise, mal spielerisch, mal ernst.

Eine Ihrer Absichten war, zu zeigen, dass jüdisches Leben in Deutschland nicht neu ist – ist das im Festjahr gelungen?
Auf jeden Fall. Zumindest in weiten Teilen haben die Menschen die Botschaft verstanden. Und das hat mir in der Rückschau am meisten gefallen. Die Menschen haben wirklich erkannt, dass jüdisches Leben seit 1700 Jahren ein fester Bestandteil der Gesellschaft ist. Dadurch war auch ein anderer Zugang zum jüdischen Leben möglich.

Worauf stützen Sie Ihre Einschätzung?
Sehen Sie, mir begegnet des öfteren die Frage, ob ich zugewandert oder zum jüdischen Glauben übergetreten bin. Die Menschen denken, dass es nicht sein kann, dass ich eine alte Familiengeschichte in Deutschland habe, dass meine Familie schon immer hier gelebt hat. Und deshalb bin ich persönlich auch so glücklich, dass wir in diesem Jahr zeigen konnten, dass wir schon seit so langer Zeit dazugehören. Ich glaube, dass wir sehr viele Menschen erreicht haben. Und das ist ein toller Erfolg. Alle Menschen wird man ja nie erreichen können. Viele Menschen, die verstanden haben, worum es geht, werden nun Multiplikatoren sein.

Serie: Jüdisches Leben

1700 jüdisches Leben in Deutschland. Der WESTFALENSPIEGEL feiert mit. Also: L’Chaim – auf das Leben!

Welche Erfahrungen haben Sie in Ihrer Gemeinde in Gelsenkirchen gemacht?
Es gab sehr gute Begegnungen. Wir haben im Rahmen dessen, was möglich wahr, viele Veranstaltungen durchgeführt. Von fröhlich bis nachdenklich war alles dabei. Manchmal hätten sicher mehr Teilnehmer kommen können, aber das war pandemiebedingt nicht immer möglich. Manche Veranstaltungen kommen aber auch erst noch, sie werden 2022 nachgeholt. Das Festjahr ist ja bis zum Sommer verlängert worden. Wir möchten zum Beispiel gerne die Klezmerwelten nachholen. Auch einige Vorträge und Lesungen zum Beispiel für Schulklassen sollen noch angeboten werden.

Sie haben in Ihrer Gemeinde aber auch die andere Seite zu spüren bekommen. Im Mai gab es antisemitische Demonstrationen vor Ihrer Synagoge.
Das stimmt. Der große haßerfüllte Aufmarsch hat unserer Gemeinde sehr zugesetzt. Aber wir hatten auf der anderen Seite auch eine sehr große Solidaritätsveranstaltung unmittelbar danach. Das zeigt hat uns auch gezeigt: die Menschen, die Antisemiten sind, werden wir mit dem Festjahr nicht erreichen. Aber ich glaube, dass wir die anderen erreichen. Und die stellen dann fest, dass Antisemitismus, Hass gegen Juden, Hass grundsätzlich zu verurteilen ist. Wir müssen einfach zeigen, wie sinnlos und unglaublich schrecklich Antisemitismus ist, weil man etwas hasst, was Teil der eigenen Gesellschaft und Kultur ist.

Was wünschen Sie sich, soll von diesem Festjahr nachhallen?
Zunächst mal bin ich froh und wirklich glücklich, dass dieses Jahr stattgefunden hat. Wir haben Veranstaltungen nicht nur in großen Städten und an den Orten gemacht, an denen jüdisches Leben ohnehin sichtbar ist. Es gab auch viele Aktionen im ganzen Land und dafür bin ich den Organisatoren wirklich dankbar. Mein Herzenswunsch ist es, dass das jüdische Leben in Deutschland einfach normal wird, dass die Menschen begreifen, Juden leben schon immer hier und sind fester Bestandteil unserer gemeinsamen Kultur.

Was wünschen Sie sich für zukünftige Begegnungen?
Ich wünsche mir, dass die Menschen weiterhin neugierig sind. Ich freue mich, wenn sie weiter auf Entdeckungstour in die jüdischen Museen und Gemeinden gehen. Dass sie in interkulturellen Arbeitskreisen mitmachen, und Programme der Christlich-Jüdischen Gesellschaften besuchen. Ich wünsche mir, dass sich die Erkenntnis durchsetzt, dass Vielfalt in unserer Gesellschaft etwas Schönes und Bereicherndes ist. Und dass das Judentum einfach dazu gehört.

Interview: Jürgen Bröker, wsp

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