Prof. Dr. Andreas Zick leitet das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld. In seinen Studien beschäftigt er sich unter anderem mit Vorurteilen und Rassismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus. Foto: Universität Bielefeld/ Norma Langohr
06.01.2022

„Es geht um eine Drohkulisse“

Im Interview mit dem WESTFALENSPIEGEL spricht der Bielefelder Konfliktforscher Andreas Zick über Proteste gegen Corona-Maßnahmen, Gewalt bei sogenannten Spaziergängen und die Parallelwelt der Corona-Leugner.

Herr Prof. Zick, wie beurteilen Sie als Konfliktforscher die sogenannten Spaziergänge?
In dieser Woche endete ein solcher Spaziergang in Minden vor dem Haus der Landrätin und ist damit in deren Privatsphäre eingedrungen. Hier sieht man, dass es nicht um eine politische Meinungsäußerung geht, sondern um eine Drohkulisse. Immer wieder wird bei solchen meist unangemeldeten Protestzügen deutlich, dass die Teilnehmer zwar vorgeben, für Demokratie und Freiheit zu spazieren. Gleichzeitig zeigen sie aber ein rücksichtsloses Verhalten, indem sie Corona-Regeln missachten. Es geht ihnen offenbar nur darum, ihr eigenes Verständnis von Freiheit durchzusetzen.

Wie radikal sind die Menschen, die dort mitlaufen?
Es gibt in diesen Gruppen sicherlich Bürger, die Corona nicht unbedingt leugnen, aber nicht mit den Einschränkungen einverstanden sind. Ihnen ist aber häufig nicht klar, mit wem und für welchen Zweck sie unterwegs sind. Die Spaziergänge sind eine Protestform, unter die sich extremistisch orientierte Kräfte mischen. Das sind nicht nur Impfgegner, sondern auch Rechtsradikale und Rechtspopulisten oder auch Identitäre, die ihre Feinbilder in die Proteste einbringen. Sie instrumentalisieren diese Bewegung für ihre Zwecke. In unseren Forschungen sehen wir, dass es neben einem harten Kern von Impfgegnern, der fünf bis sechs Prozent der Bevölkerung ausmacht, auch eine verbreitete unterschwellige Zustimmung zu radikalen Ansichten in den sozialen Medien gibt.

„Wahrnehmung von Realität verschiebt sich“

Querdenker fallen nicht nur bei Protestzügen auf. Auch durch manche Freundeskreise oder Familien gehen Risse, weil Verschwörungsmythen zur Pandemie verbreitet werden.
Wir sehen hier durchaus Merkmale einer Parallelgesellschaft: Menschen bewegen sich zunehmend in einem eigenen Kosmos: Sie konsumieren nur noch Medien, die Verschwörungsmythen verbreiten. Gesicherte Forschungserkenntnisse, zum Beispiel zu Impfungen, werden dort in Frage gestellt und durch eigene Thesen ersetzt. Es gibt sogar eigene Versorgungssysteme, zum Beispiel Listen von Läden, in denen ohne Maske eingekauft werden kann. Die Wahrnehmung der Realität verschiebt sich und wir können nicht mehr darauf vertrauen, dass diese Menschen durch Informationen und Argumente erreicht werden, um sich eine rationale Meinung bilden.

Was sollte angesichts dieser Radikalisierung getan werden?
Wichtig ist zunächst, dass sich die Gewalt nicht in einem Dunkelfeld abspielt. Wir brauchen genaue Analysen der radikalen Tendenzen, um Konzepte dagegen zu entwickeln. Dazu zählen Kampagnen gegen Verschwörungserzählungen, die weite Teile der Bevölkerung erreichen. Dann brauchen wir eine umfassende soziale Arbeit, also Beratungsangebote zum Beispiel für Corona-Leugner, Impfgegner und deren Angehörige. Vor Ort und digital.

Politik oder auch Polizei reagieren immer wieder überrascht auf Proteste. Ist das Phänomen tatsächlich neu?
Ich bin überzeugt: Wer jetzt von Protesten oder eben auch Corona-Spaziergängen überrascht wird, merkt es zu spät. In der Konfliktforschung haben wir bereits im Sommer 2020 einen Einbruch der Solidarität und eine Radikalisierung von Corona-Leugnern und Kritikern der Maßnahmen beobachtet. Und wir haben vor dieser Entwicklung gewarnt. Die Pandemie ist eine Situation großer gesellschaftlicher Verunsicherung, die radikale Gruppen für ihre eigenen politischen Interessen nutzen.

Interview: Annette Kiehl, wsp

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