Experiment Regelunterricht
Die Schulen in Westfalen bereiten sich auf den Start nach den Sommerferien vor. Präsenzunterricht für alle mit Maskenpflicht ab Klasse 5 hat das NRW-Schulministerium vorgegeben.
„Es ist gut, dass es mit der Maskenpflicht eine klare Entscheidung gibt“, sagt Dr. Birte Güting, Schulleiterin der Schiller Schule in Bochum. Auch wenn sie mit Blick auf die Temperaturen von mehr als 30 Grad, die zum Schuljahresbeginn erwartet werden, ergänzt, dass es sicher nicht angenehm werde. Die Pädagogin ist froh, dass sie nun überhaupt wieder alle Schüler begrüßen kann. Denn Lernen auf Distanz funktioniert längst nicht so gut, wie Lernen in der Schule.
So hat eine Befragung des Münchener ifo-Instituts unter mehr als 1000 Eltern gezeigt, das sich die Zeit, in der sich Kinder mit Schule und Lernen befassten, in der Phase der Schulschließungen mehr als halbiert hat. Zugleich schauten die Kinder und Jugendlichen wesentlich mehr Fernsehen. Auch der Konsum von Computerspielen und die Zeit, die Schüler mit sozialen Medien verbrachten, wurden mehr.
Große Ungewissheit
In die Vorfreude auf den Schulstart und das Wiedersehen mit allen Schülern, mischen sich bei vielen Schulleitern aber auch Sorgen. Das liegt auf der einen Seite an der Ungewissheit, wie sich die Infektionslage entwickeln wird. Schließlich ist es nicht unwahrscheinlich, dass Schüler erkranken und Klassen in Quarantäne müssen. Vielleicht müssen dann auch ganze Schulen wieder schließen.
Und dann sind da natürlich auch die großen Veränderungen im Schulalltag: Abstandsregeln, Masken und Hygienekonzept verändern das Leben und Lernen in den Einrichtungen nachhaltig. „Vieles, was das Schulleben an unserer Schule ausmacht, ist erst einmal nicht möglich“, sagt Schulleiterin Güting. Dazu gehören zum Beispiel Konzerte und andere Aufführungen. „Eigentlich wollten wir den Schulstart mit einem großen gemeinsamen Frühstück feiern, aber auch das geht natürlich nicht“, so Güting weiter. Außerdem gibt es an der Bochumer Schule einige Kollegen, die aufgrund von eigenen Vorerkrankungen für den Präsenzunterricht nicht zur Verfügung stehen. Das muss irgendwie kompensiert werden. Vor dem Hintergrund vieler unbesetzter Lehrerstellen ist das ein großes Problem, das auch die Lehrer-Gewerkschaft Bildung und Wissenschaft (GEW) kritisiert. Das Schuljahr 2020/21 wird geprägt sein von eklatantem Lehrkräftemangel – bei einigen Schulen bis zu 30 Prozent, so die GEW.
Ohnehin kritisier die GEW das Schulministerium. „Leider müssen wir feststellen, dass Lehrer*innen, Schüler*innen und Eltern nach sechs Wochen Sommerferien vor einem nicht gut vorbereiteten Schulstart stehen“, so GEW-Landesvorsitzende Maike Finnern. Bei den Schulen in unserer Umfrage waren vor allem noch folgende Fragen nicht vollständig geklärt: Wie kann der Sportunterricht unter freiem Himmel aussehen und wo können sich die Schüler dafür umziehen? Unter welchen Voraussetzungen können die Mensen öffnen? Wie gestaltet man Frühstückspausen? Wie ist die Situation in den Bussen, mit denen die Kinder zur Schule kommen?
Mehr Zeit für die Umsetzung der Maßnahmen
Auch an der Gesamtschule Auf dem Schießberg in Siegen beschäftigen sich die Verantwortlichen mit solchen Fragen. Schulleiter Alexander Lisai ist froh, dass er und sein Team mehr als eine Woche Zeit hatten, die Vorgaben aus dem Ministerium in Angriff zu nehmen und umzusetzen. So viel Zeit hat es in der Vergangenheit nicht immer gegeben.
Auch er glaubt nicht, dass das Umsetzen der Maskenpflicht zu größeren Problemen führt. Er befürwortet diese, sieht aber auch negative Auswirkungen. „Wenn die Schüler ihre Masken tragen, können wir die Mimik des Gegenübers nicht sehen. Das erschwert auch den Unterricht“, ist Lisai überzeugt. Schade findet er zudem, dass die gemeinsame Begrüßung der neuen Fünftklässler ausfallen muss: „Wir werden die einzelnen Klassen zeitversetzt in kleinem Rahmen begrüßen. Es wird eher eine kurze Informationsveranstaltung.“ Der Schulleiter hofft darauf, vor den Herbstferien noch eine Feierstunde nachholen zu können.
Während der Regelbetrieb für die weiterführenden Schulen zum ersten Mal seit dem Lockdown im März wieder stattfinden kann, konnten die Grundschulen in Westfalen schon in den beiden Wochen vor den Sommerferien den „Ernstfall“ mit allen Klassen proben. Für sie hat sich dadurch nun nicht viel verändert.
Für die Gebrüder-Grimm-Schule in Hamm, die im vergangenen Jahr den Schulpreis gewonnen hat, allerdings schon. „Wir konnten lediglich drei Tage im Regelbetrieb arbeiten, dann mussten wir schon wieder schließen“, sagt Schulleiter Frank Wagner. Der Grund: positive Covid-19-Tests an der Grundschule. Die Schließung nach so kurzer Zeit sei für die Schulgemeinschaft vor allem emotional sehr belastend gewesen. Doch für die jetzige Öffnung sieht er darin sogar einen positiven Effekt. „Wir wissen jetzt, was im Fall einer neuerlich notwendigen Schließung auf uns zukommt“, sagt Wagner. Erleben möchte er diesen Fall aber nicht.
Es bleibt ein „Experiment“
Denn auch er hat – trotz guter technischer Voraussetzungen an seiner Schule – die Erfahrung gemacht, dass digitale Angebote einen Präsenzunterricht nicht ersetzen können. „Wir sind eine Schule, die auf Beziehungen setzt. Lernen in Gemeinschaft steht in Hamm im Fokus. Das geht zuhause nicht“, so der Schulleiter.
In den Schulen hoffen die Verantwortlichen darauf, dass sie von Corona-Fällen verschont bleiben. Angesichts wieder deutlich steigender Fallzahlen wissen sie aber auch, dass das Virus jede Schule erneut treffen kann. Daher ist sich Schulleiterin Güting sicher: „Wir werden weiter flexibel sein müssen.“
Und ihr Kollege Lisai aus Siegen ergänzt: „Die Entscheidungen und Vorgaben können nur auf der Basis von Erfahrungswerten getroffen werden.“ Es werde sicher noch einmal Neubewertungen und Änderungen am Konzept geben. Die Schulöffnung und der Umgang mit der Corona-Pandemie in den Schulen bleibe ein Experiment, so Lisai.
jüb/wsp