
Familienforschung als Detektivarbeit
Die Westfälische Gesellschaft für Familienforschung wird 100 Jahre alt. Grund genug, sich die Arbeit dort einmal genauer anzusehen.
Als der US-Schauspieler Tom Hanks 2006 im Kinohit „The Da Vinci Code“ den Symbol-Forscher Robert Langdon von der Harvard-Universität mimte, rückte das den Fokus auf die sogenannten „Hilfswissenschaften“, die oft im Schatten der bekannteren Geisteswissenschaften stehen. Ohne die Sphragistik (Siegelkunde), Paläografie (Schriftkunde), Kodikologie (Handschriftenkunde), Heraldik (Wappenkunde) und Numismatik (Münzkunde) – um nur einige Fächer zu nennen – oder die Genealogie, die Familiengeschichtsforschung, wäre die Auswertung historischer Quellen vielfach gar nicht möglich.
„Ich fand Stammbäume schon immer toll“
„Die Familienforschung war für mich der Beginn der Beschäftigung mit Geschichte“, berichtet Roland Linde. 1985 besuchte der Detmolder erstmals ein Archiv aktiv als Benutzer: „Ich fand Stammbäume immer schon toll, und als ich mitbekam, dass man im Archiv seinen eigenen Stammbaum erforschen kann, gab es kein Halten. Danach besuchte ich einen Genealogen-Abend im Hause der vornehmen Gesellschaft ‚Ressource‘ und war der einzige Jugendliche unter lauter ehrenwerten Herren.“ Heute ist Roland Linde Historiker und Geschäftsführer der Westfälischen Gesellschaft für Genealogie und Familienforschung, die dieses Jahr ihr 100-jähriges Bestehen feiert.
„In der Regel ist das Erforschen der Familiengeschichte die erste Motivation, Archive zu besuchen und Kirchenbücher und Sterberegister zu durchforsten“, erklärt Linde. „Da lernt man, sich durch alte Handschriften durchzubeißen.“
Die populäre Genealogie, die Ahnen- und Sippenforschung, entstand im 19. Jahrhundert als Bewegung aus dem aufsteigenden Bürgertum, wie Prof. Dr. Elisabeth Timm, Vorsitzende der Volkskundlichen Kommission für Westfalen und Kulturanthropologin an der Universität Münster, in der Einleitung zur Studie „Genealogische Vereinsarbeit zwischen Geschichtspolitik und populärer Forschung“ betont. „Es war für uns ein echter Glücksfall, dass sich 2016 die Chance ergab, im Rahmen eines wissenschaftlichen Volontariates bei der Volkskundlichen Kommission die Geschichte unseres Vereins und damit letztlich auch die Entwicklung der populären Genealogie untersuchen zu lassen“, erklärt Roland Linde.
Gefährliche Arbeit der „Sippenforscher“
Christiane Cantauw, Geschäftsführerin der Volkskundlichen Kommission, und Elisabeth Timm begleiteten den jungen Paderborner Historiker Niklas Regenbrecht bei diesem interdisziplinären Projekt und der schwierigen Suche nach Archivalien. Regenbrecht habe, so Linde, dabei echte Detektivarbeit geleistet und auch die ideologischen Verwicklungen während der Zeit des Nationalsozialismus untersucht: „Die genealogische Arbeit erhielt eine Anwendungsorientierung, die in letzter Konsequenz tödlich sein konnte“, beschreibt Niklas Regenbrecht die Arbeit der „Sippenforscher“ im Kontext der NS-Rassenpolitik.
Heute hilft das Projekt „JuWeL – Juden- und Dissidentenregister Westfalen-Lippe“ vielen Nachfahren der NS-Opfer bei der Rekonstruktion ihrer Familiengeschichte. Beteiligt sind das Landesarchiv NRW, der Verein für Computergenealogie (CompGen) und die Westfälische Gesellschaft für Genealogie und Familienforschung. Das Online-Projekt stellt weltweit nicht nur Archivalien online zur Verfügung, die Daten werden zudem durch Genealogen aufbereitet. „Kurz vor Weihnachten konnten wir Eintrag Nummer 100.000 feiern! Schön ist, dass jeder Originaleintrag mit der Originalquelle verknüpft ist“, hebt Roland Linde hervor.
Internet revolutioniert die Genealogie
Radikal verändert hat sich die Genealogie seit Einführung des Internets. Archive werden digitalisiert und somit die Forschung beschleunigt, Projekte wie JuWeL funktionieren als „Crowdsourcing“, bei dem sich über eine offene Plattform Forscher weltweit beteiligen können. Die Öffnung nach außen biete viele Chancen, denn es gebe durchaus Genealogen, die sich keinem Verein anschließen wollen. Zugleich sicherten solche Gemeinschaftsprojekte eine demokratische, freie Zusammenarbeit über alle Grenzen hinweg, so Linde: „Letztlich muss man aber immer filtern und richtig kombinieren, sonst ertrinkt man in Datenbergen.“
Die Volkskundlerin Christiane Cantauw beobachtet, dass durch das Internet und die Digitalisierung vieler Archivalien sich auf einmal ganz neue Gruppen für die Familienforschung interessieren: „Weil ich nicht mehr unbedingt jedes Archiv persönlich aufsuchen muss, ist der Zugang zu diesem Feld niedrigschwelliger und einfacher geworden.“
Matthias Schröder
Literaturtipp:
Niklas Regenbrecht: Genealogische Vereinsarbeit zwischen Geschichtspolitik und populärer Forschung, Waxmann Verlag 2019, 34,90 Euro
Jubiläumsfeier:
Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Westfälischen Gesellschaft für Genealogie und Familienforschung finden vom 20. bis 22. März 2020 in der Bezirksregierung Münster die öffentliche wissenschaftliche Tagung „Genealogie in der Moderne: Akteure – Praktiken – Perspektiven“ (Anmeldungen bis 8. März per E-Mail an kulturanthropologie@uni-muenster.de) sowie am 22. März im Erbdrostenhof Münster ein öffentlicher Festakt (Anmeldung bis 29. Februar unter gesellschaft@wggf.de) statt.
Weitere Infos finden Sie bei der Westfälischen Gesellschaft für Genealogie und Familienforschung und bei der Volkskundlichen Kommission für Westfalen.
Dieser Text erschien zuerst in Ausgabe 1/2020 des WESTFALENSPIEGEL