Seit 1961 erfolgreich: Die Heftserie Perry Rhoadan. © Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt. Illustration: Arndt Drechsler
14.08.2019

Fantastische Welten

Überraschend vielfältig ist die Science-Fiction-Literatur aus Westfalen. Ein Lesestoff, den es hier zu entdecken lohnt. Von der Hochliteratur bis zum Groschenheft ist alles dabei.

Science-Fiction-Literatur aus Westfalen? Gibt es die überhaupt? In gängigen westfälischen Literaturgeschichten spielt sie jedenfalls keine Rolle. Man gewinnt den Eindruck, als sei sie eine Literatur zweiter Klasse. Es ist sogar von einer „Schmuddelecke“ die Rede, in der sich diese Literaturgattung lange Zeit befunden habe.

Bei genauerer Betrachtung ist das Thema – einschließlich der Kategorien Utopie und Dystopie – jedoch überraschend ergiebig. Und das quer durch die Jahrzehnte und in all den Erscheinungsformen, die zu diesem Genre dazu gehören – von der „Hochliteratur“ bis zum „Groschenheft“.

Ein Pionier war der Dortmunder Hugo Wolfgang Philipp, der in den 1920er Jahren fantastische Erzählungen mit satirischem Einschlag veröffentlichte. Hierzu gehörte der Text „Der Sonnenmotor“, der von einem sagenhaften, mit Zauberkräften versehenen Metall handelt, das angeblich aus der legendären Stadt Atlantis stammt. Die Kriegsmaschinerie des Kaiserreichs will sich die Erfindung sogleich zunutze machen… 

Ebenfalls aus Dortmund stammt Walter Vollmer. Sein Debütroman „Flug in die Sterne“ (1929) ist – in filmischen Kategorien – allenfalls als „B-Movie“ einzustufen. Aber das Werk war erfolgreich und verhalf dem Autor zum nötigen Kleingeld, um sein Studium zu finanzieren. Im Mittelpunkt der Handlung steht eine aus verschiedenen Nationalitäten zusammengewürfelte Truppe, die zu einer gefährlichen Expedition zum Mars aufbricht. Man kommt tatsächlich mit einem Marsmenschen ins Gespräch. Doch der ist müde und lethargisch. Er gibt der Crew den Rat, sich schleunigst auf den Rückweg zu machen, was diese auch beherzigt.

Viele Verlage im Sauerland

An Carl Calcums Zukunftsroman „Wall im Weltraum“ (1948) verwundert der Weitblick des Autors. Denn er sah bereits selbstfahrende und ferngesteuerte Autos voraus und „Sicht-Sprech“, eine Art Bildtelefon. Der Roman greift die sich anbahnenden Spannungen zwischen den östlichen und westlichen Machtblöcken auf. Diese müssen sich wohl oder übel zusammenschließen, um einen existenzbedrohenden Meteoritenschwarm abzuwehren. Ein westfälischer Bezug ergibt sich über den Erscheinungsort. „Wall im Weltraum“ erschien als Leihbuch im Iserlohner Silva-Verlag. Westfalen war die Region mit der größten Dichte solcher Leihbuchverlage. Das Zentrum lag im strukturschwachen Sauerland, wo günstige Produktionsbedingungen vorherrschten.

Der Recklinghäuser Autor Heinrich Schirmbeck (1915–2005) ist ein bis heute viel zitierter Theoretiker des Science-Fiction-Genres (SF). Sein Hauptwerk ist der Roman „Ärgert dich dein rechtes Auge. Aus den Bekenntnissen des Thomas Grey“ (1957). Grey ist ein junger, kunstbeflissener Dandy, der in einem Pariser Laboratorium arbeitet. Dort arbeitet man an Vernichtungswaffen, was die Frage nach der Verantwortlichkeit des Wissenschaftlers im Zeitalter der Atombombe aufwirft. Der Roman rief in England und Amerika enthusiastische Reaktionen hervor. 

Mehr als 3000 Hefte sind in der Perry Rhodan Serie bisher erschienen. Fotos: © Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt.

Mehr als 3000 Hefte sind in der Perry Rhodan Serie bisher erschienen. Fotos: © Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt.

Eine Legende: Perry Rhodan

1961 wird eine Legende geboren: Perry Rhodan, amerikanischer Astronaut und Held der bis heute erfolgreichen Heftserie. Sie brachte es bislang auf 3000 Hefte mit einer Auflage von weit über einer Milliarde Exemplaren und ist damit DER Klassiker der SF-Literatur schlechthin. Im Verlauf von fast 60 Jahren wirkten über zwei Dutzend Autoren an der Serie mit, zahlreiche davon aus Westfalen. Der bekannteste ist Clark Darlton alias Walter Ernsting (1920–2005), der in Lüdenscheid aufwuchs – eine SF-Ikone, nach der sogar ein Asteroid benannt ist.

Für die Fortsetzung der Serie zeichnet heute der in Wanne-Eickel geborene und in Gelsenkirchen lebende Hartmut Kasper als „Storyliner“ mitverantwortlich. Seit 2007 ist er unter dem Pseudonym Wim Vandemaan ein produktiver Autor der Heftserie. Mit der Perrypedia existiert seit 2004 ein Wikipedia ähnliches Nachschlagewerk mit fast 40000 (!) Stichpunkten zum „Perryversum“. 

Reißerische Weltraum-Soaps

Und die Konkurrenz? Die schläft bekanntlich nicht. Der im westfälischen Balve beheimatete Widukind-Verlag brachte 1961 die Serie „Widukind Utopia-Spitzenklasse“ heraus. Hier debütiert der damals gerade mal 21-jährige, aus Detmold stammende spätere Bestsellerautor Thomas R. P. Mielke (u. a. „Gilgamesch“, „Karl der Große“) mit reißerischen Weltraum-Soaps. Interessant ist der Nachklapp des Bandes. Es wird auf fast 2500 Titel „deutschsprachiger utopischer Literatur“ hingewiesen, die über die Buchgemeinschaft „Transgalaxis“ bestellt werden konnten – Indiz für die Popularität des Genres. Mitte der 1970er Jahre entwickelte Mielke das Konzept einer eigenen Science-Fiction-Reihe, „Die Terranauten“, die zwischen 1979 und 1981 auf 99 Ausgaben kam. 

Die in Höxter geborene Autorin Josefine Rieks hat im Carl Hanser Verlag ihren Roman „Serverland“ veröffentlicht. Foto: Tim Brüning

Ein typischer Serienautor ist der Bochumer Falk-Ingo Klee, der 1978 in die Reihe „Terra Astra“ einstieg, in der auch „Raumschiff Orion“ erschien, die das Vorbild für die bis heute erfolgreichste deutsche Science-Fiction-Fernsehserie „Raumpatrouille“ abgab. Mehr als Kuriosum sei das Autorenduo Ulf Miehe und Walter Ernsting erwähnt. In ihren apokalyptischen Zukunftsvisionen („Der strahlende Tod“, 1967, „Leben aus der Asche“, 1968) treten Pop-Stars wie Mick Jagger und Pete Townshend als Akteure auf. Gewidmet ist „Der strahlende Tod“ John Lennon. Das Pop-Jahrzehnt hinterließ weitere Spuren. In Wolfgang Körners Roman „Nowack“ (1969) werden beispielsweise aussortierte Arbeitnehmer kurzerhand in einer „Notunterkunft“ am Dortmunder Stadtrand entsorgt. Dort verbringen sie ihre Zeit in einem Wellness-Center hinter Stacheldrahtzäunen. Orwell lässt grüßen.

Doch nicht immer geht es so rabenschwarz und ernst zu. 1970 gaben der Karikaturist Adolf Oehlen und der Autor Jo Pestum ein Taschenbuch mit dem Titel „Astronautenlatein“ heraus. Der Untertitel lautete: „Raumfahrt, wie sie keiner kennt. Garantiert ohne Vorwort von Wernher von Braun“. Das Büchlein besteht aus 13 in sich abgeschlossenen Mini-Science-Fiction-Storys mit einem Umfang von jeweils zwei Buchseiten. Köstlich!

Düstere Zukunftsvisionen

1973 erschien mit „Jenseits von Lalligalli“ ein Frühwerk des späteren Droste-Preisträgers Ludwig Homann. Darin hat Tonius einiges durchzustehen. Er gerät in ein unterirdisches Labyrinth, wird dort Teil einer dumpfen Arbeitssklavenkolonne, flüchtet mehrfach unter Lebensgefahr und gelangt schließlich in eine Stadt, die von einem Tyrannen beherrscht wird. 

Ebenfalls aus den 1970er Jahren stammt Karl-Ulrich Burgdorfs Jugendroman „Delphinenspiele“. Auch in diesem Werk geht es um die Verantwortung des Wissenschaftlers in einer von Machtblöcken bestimmten, durchkapitalisierten Welt. Hier ist es die UNO, die Druck ausübt. Opfer ist der 78-jährige Delphinforscher und Biologe Carl Benton, dem es gelungen ist, die Intelligenz von Delphinen so zu steigern, dass man sich mit ihnen unterhalten kann. Als Benton die Tiere für ein kommerzielles Projekt zur Verfügung stellen soll, veranlasst er sie, sich zu verstecken. „Delphinenspiele“ ist einer der frühesten Öko-SF-Romane eines deutschen Autors überhaupt. Burgdorf tritt auch als SF-Übersetzer in Erscheinung, unter anderem des Klassikers Philip K. Dick.

1978 betritt mit Werner Zillig einer der wichtigsten deutschen SF-Autoren die Literaturbühne. Zillig, der über 20 Jahre an der Universität Münster lehrte, veröffentliche mehrere Erzählbände, den Roman „Die Parzelle“ und diverse Hörspiele. Ihm geht es um die psychologischen Seiten des Genres, fern aller Actionwelten. Seine Geschichten sind geräuschlos, fast Stillleben, allerdings mit beunruhigender Präsenz. In „Die Parzelle“ kommt ein unbescholtener Mann mit Phänomenen des Übersinnlichen in Kontakt. Er ist von dieser neuen Welt so fasziniert, dass er mit seinem normalen Leben bricht. 

Science-Fiction-Autor aus Hagen: Simon Urban. Foto: Sonja Seifer-Beck.

Ein weiterer Hörspielautor ist der 1949 in Bünde geborene Ulrich Horstmann. In seinem ersten Hörspiel „Nachrede von der atomaren Vernunft“ (1978) fordert er mit Nachdruck die Auslöschung unseres Planeten. „Die Bunkermann-Kassette“ (1979) dokumentiert Ton-Aufzeichnungen des letzten Überlebenden nach dem Atomkrieg. In „Gedankenflug“ (1980) ist ein Astronaut mit einem menschenähnlichen Roboter im All unterwegs, der schließlich das Kommando übernimmt. „Kopfstand“ (1980) wurde prominent mit Manfred Krug und Dieter Borsche als Sprecher realisiert: Eine Versuchsperson soll mittels Stromstößen dazu gebracht werden, nur noch das wahrzunehmen, was der Arzt ihr vorschreibt.

Wie bei Orson Welles

Ulrich Harbecke (geb. 1943 in Witten) spielt in dem Roman „Invasion“ (1979) ein Orson-Welles’sches Szenario durch. Was würde passieren, wenn ein Alien diesen Planeten betritt? Als genau das geschieht, wird er von einer paralysierten Masse zu Tode geprügelt. Es braucht – so die Botschaft – offensichtlich nicht viel, um eine für paranoides Gedankengut anfällige Gesellschaft aus dem Gleichgewicht zu bringen. 

Beim Debüt des Münsteraners Dietrich Wachler, „Die dreizehnte Tafel“ (1984), haben Insekten die Weltherrschaft übernommen, ganz wie es das Gilgamesch-Epos prophezeite. Wachlers Folgeroman „Väinämöinens Wiederkehr“ taucht in die finnische Sagenwelt ein und verbindet diese mit der Lebensgeschichte des Komponisten Jean Sibelius. Am Schluss des Romans werden Sibelius und der finnische Zauberer Väinämöinen eins. Ein weiteres Buch mit langem Nachhall. 

Weltlicher geht es in Gerhard Menschings Roman „Die abschaltbare Frau“ (1991) zu, die den Pygmalion-Mythos weitererzählt. Diesmal wird jedoch keine antike Statue zum Leben erweckt, sondern eine Sexpuppe, die Pit Corduan, 38, in Frankreich erwirbt. Sie »entpuppt« sich nicht als steriler Apparat, sondern als hochintelligente Androidin, die schon bald problemlos im wirklichen Leben zurechtkommt und sogar „echte“ Gefühle für Corduan entwickelt. 

Auch das Niederdeutsche hat einen Science-Fiction-Stoff zu bieten. Gemeint ist Georg Bührens Theaterstück „Üöwergang“, das 1997 von der Niederdeutschen Bühne Münster Premiere feierte. Es spielt in einer Zeit, in der Filterfenster und Hautschutzsalben mit Faktor 500 an der Tagesordnung sind. Die wenigen Plattdeutsch sprechenden Menschen sind auf Museumshöfen evakuiert und werden von Erlebnisgruppen wie von »Happy Tours« bestaunt. 

Die jüngere Szene

Noch ein Blick auf die jüngere Autorenszene. Für sie gehören Dystopien zum bevorzugten Repertoire. Der Hagener Simon Urban entwirft in „Plan D“ (2011) das Szenario einer bis heute fortbestehenden DDR. Das Nachfolgewerk „Gondwana“ (2014) ist auf einem Südseeatoll angesiedelt, auf dem alle Weltreligionen friedlich zusammenleben. Bis ein brutaler Mord passiert, der niemals hätte passieren dürfen und folglich vertuscht wird. Näher an der Gegenwart ist Urbans Satire „Der Eurokiller“ im Zeit-Online-Magazin. Sie handelt von Bernd Lucke, der sich, nach seiner gescheiterten Kanzlerschaft, im italienischen Exil auf sein politisches Comeback vorbereitet. 

Jörg Albrechts Roman „Anarchie in Ruhrstadt“ (2014) schildert – vom Jahr 2044 aus – den Aufstieg und Fall der Kulturmetropole Ruhr. Die schöne neue Welt mit Luftschlitten, die leise zischend sechsspurig hin und herjagen, in der man mit Flugtaxis, Strahlgleitern, Zeitreiseautos und ultrasensiblen Transportbändern unterwegs ist und sich überall von Video-Screens berieseln lassen kann, ist nur ein künstlicher Lebensersatz, ein Fake. 

Noch desillusionierender geht es in Hendrik Otrembas Roman „Über uns der Schaum“ (2017) zu. Tödlicher saurer Regen, verseuchtes Wasser und eine verstrahlte Umwelt haben die Grundvoraussetzungen des Lebens fast vollständig ruiniert. Die Stadt, in der die Detektivgeschichte ihren Anfang nimmt, ist ein Ort des Grauens, ein Ort der verlorenen Seelen. Die „trübe Giftsuppe“ ist allgegenwärtig: „Leute, die sterben wollten, gingen in den Regen. Es war die schrecklichste Art zu sterben. Wer in den Regen ging, tat dies, um nicht mehr zurückkehren zu können. Es hatte eine Endgültigkeit. Die Haut zersetzte sich langsam.“

Viele Überraschungen

Leichteren Stoff bietet die Jung-Autorin Josefine Rieks, 1988 in Höxter geboren und mit heutigem Wohnsitz Berlin. Ihr Roman „Serverland“ spielt 15 Jahre, nachdem das Internet abgeschaltet wurde. Nun macht sich eine neue Generation daran, es wiederzubeleben. Und wiederholt dabei den Kardinalfehler, das World Wide Web für ein soziales, gerechtes Medium zu halten. Als man Robbie Williams auf einem Youtube-Video strippen sieht, ist man schier aus dem Häuschen. Rieks wurde unlängst mit dem Literatur-Förderpreis des Landes NRW ausgezeichnet.

Nach etlichen tausend Seiten Science-Fiction-Literatur aus hiesigen Landen gelangt der Verfasser zu dem Fazit: Ja, es hat sich gelohnt. Das Thema ist für viele Überraschungen gut und bietet erfrischenden Lesestoff.  

Walter Gödden

Dieser Beitrag stammt aus dem WESTFALENSPIEGEL Heft 1/2019.

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