2016 besuchten 17 Enkel und Urenkel von Moritz und Else Gans aus den USA und Israel deren ehemaliges Haus auf Einladung der heutigen Eigentümer. 
Foto: Norbert Fasse, Stadtarchiv Borken
07.04.2020

Filmreife Familiengeschichte

Die Nachkommen des Juden Manfred Gans wiederholten vor einigen Jahren seine Fahrt durch Deutschland nach Theresienstadt, wo seine Eltern die KZ-Haft überlebten. Die Film-Dokumentation „Eine Reise in die Vergangenheit: Die Geschichte der jüdischen Familie Gans aus Borken“ begleitet diese Fahrt. In der Mediathek des LWL-Medienzentrums für Westfalen wird der Film zurzeit kostenlos zum Download angeboten.

Manfred Gans ist kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges gerade 23 Jahre alt. Ein Soldat, Offizier in britischer Uniform. Angehöriger einer Eliteeinheit, die an vorderster Front kämpft. Er hat an der Invasion in der Normandie im Juni 1944 teilgenommen, um Europa vom Nationalsozialismus zu befreien. Anfang Mai 1945 – die deutsche Kapitulation ist noch nicht unterzeichnet – befindet er sich in den südlichen Niederlanden, in der kleinen Stadt Goes. Dieser junge Mann ist sieben Jahre zuvor zusammen mit seinem Bruder als deutscher Flüchtling nach England gekommen. Jetzt kehrt er zurück.

Was für eine Familiengeschichte! Der Großvater Karel Gans war 1879 aus dem niederländischen Winterswijk nach Borken eingewandert, hatte dort geheiratet und eine Familie gegründet. Nachdem der zweitälteste Sohn Moritz, Manfreds Vater, eine Ausbildung als Textilkaufmann absolviert hatte, rief der Großvater 1905 eine Textilgroßhandlung, spezialisiert auf Seidenware, ins Leben.

Freiwillig in den Krieg

Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete sich Moritz Gans – wie so viele Juden damals – selbstverständlich freiwillig, um für das deutsche Vaterland zu kämpfen. Er, der im Einsatz ein Bein und die halbe Lunge verlor, wurde für seine Tapferkeit mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse dekoriert. Nach dem Ende des Krieges kehrte er zurück, heiratete seinerseits und gründete mit seiner Frau Else einen eigenen Textilhandel. 

Die Geschäfte entwickelten sich gut, und schon bald konnte das Ehepaar ein großes Wohnhaus erwerben, in dem die drei Söhne Karl, Manfred und Theo aufwuchsen. Neben seinem Beruf engagierte sich Gans ehrenamtlich im Reichsverband deutscher Kriegsopfer, dessen Borkener Ortsgruppe er bis zum Ende der Weimarer Republik leitete, sowie in der jüdischen Gemeinde. Bei den Kommunalwahlen 1929 wurde er auf der sozialdemokratischen Liste ins Stadtverordnetenkollegium gewählt.

Das LWL-Medienzentrum hat den Film als DVD und zum Download veröffentlicht.

Das LWL-Medienzentrum hat den Film als DVD und zum Download veröffentlicht.

Politisch wach und interessiert, hatte er die aufkommende nationalsozialistische Gefahr frühzeitig erkannt. Er sah die systematische Ausgrenzung, die Entrechtung und die Zunahme gewalttätiger Übergriffe auf die jüdische Minderheit, die auch seinem Unternehmen bald die Lebensgrundlagen entzogen. So sorgte er dafür, dass der älteste Sohn, Karl, 1936 nach Palästina auswandern konnte. Den beiden jüngeren, Manfred und Theo, ermöglichte er 1938 die Einreise nach England. Nach dem Novemberpogrom 1938, das Borken nicht verschonte, verließen auch die Eltern die westfälische Heimat und suchten Zuflucht in den nahen Niederlanden. In Anbetracht der nach der deutschen Besetzung 1940 auch hier zunehmenden Judenverfolgung tauchte das Ehepaar auf einem Bauernhof unter, wurde verraten und im Juni 1943 in das Durchgangslager Westerbork gebracht. Von dort kamen sie in das KZ Bergen-Belsen, dann im Januar 1944 nach Theresienstadt. 

Glückliches Wiedersehen 

Das alles erfährt Manfred in den letzten Tagen des sogenannten Dritten Reiches. Und noch bevor die Waffen schweigen, macht er sich mit einem Jeep und einem Fahrer auf den Weg von Goes quer durch das zerstörte Deutschland nach Tschechien. Er sucht seine Eltern. Das, was er auf dieser Reise, die ihn auch über seine Geburtsstadt Borken führt, beobachtet und erfährt, hat er in einem sehr persönlichen Reisebericht niedergeschrieben. Und, ja, angekommen im Chaos des Konzentrationslagers findet er die Eltern wieder: geschwächt, erschöpft, aber lebendig. Es grenzt an ein Wunder in dieser mörderischen Zeit.  

Während die Eltern sich später, in den 1950er Jahren, in Israel niederließen, ging Manfred in die USA, wo er sich erfolgreich als Geschäftsmann etablierte. Erst nach dem Tod von Moritz und Else Gans kehrten die drei Brüder aufgrund einer Einladung engagierter Bürger anlässlich der 50. Wiederkehr der Pogromnacht 1988 nach Borken zurück. Später folgten weitere Besuche. 

Im Jahr 2016 machten sich die Kinder und Enkel, Neffen und Nichten aus Israel und den USA auf den Weg, um Manfreds Reise noch einmal zu wiederholen. Diese Fahrt hat der junge Filmemacher Daniel Huhn auf Anregung des Stadtarchivs Borken und des LWL-Medienzentrums zum Anlass genommen, um die Geschichte der Familie Gans nachzuerzählen. Er taucht tief in die mit Fotografien und Dokumenten hinterlegte Familiengeschichte ein, rekonstruiert die Fahrt 1945 und begleitet die Reise 2016 in Wort und Bild. Sehr persönliche Interviews älterer und jüngerer Familienmitglieder interpretieren die Bilder. Und er beschreibt auch den Prozess einer wechselseitigen Wiederannäherung an eine gemeinsame Vergangenheit. Ein bewegender, beglückender, nachdenklich machender Film!

Volker Jakob, wsp

Dieser Artikel ist im WESTFALENSPIEGEL 01/2019 erschienen.

 

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