Anke Kohmäscher, Professorin für Therapiewissenschaften an der FH Münster. Foto: FH Münster
21.10.2020

„Gravierende Auswirkungen auf den Alltag“

Der 22. Oktober ist der Welttag des Stotterns. Studien zufolge muss rund ein Prozent der Bevölkerung mit dieser Störung des Redeflusses leben. An der FH Münster wird dazu im Fachbereich Gesundheit geforscht. Im Interview spricht Prof. Dr. Anke Kohmäscher, Professorin für Therapiewissenschaften, über den Einfluss des Stotterns auf den Alltag und Möglichkeiten der Therapie.  

Frau Prof. Kohmäscher, braucht es einen internationalen Tag des Stotterns?
Ja, den braucht es unbedingt. Er ist wichtig, damit man über diese Sprachstörung aufklären kann. Es kursieren viele Vorurteile gegenüber stotternden Menschen. Außerdem begegnet man häufig veraltetem Wissen zum Stottern.

Wie äußert sich das zum Beispiel?
Früher dachte man, Stottern hat rein psychische Ursachen. Weit verbreitet war der Glaube, dass Stotternde Angst vor dem Sprechen haben. Heute wissen wir, dass die Ursachen für das Stottern vielfältig und nicht gänzlich geklärt sind. Genetische Faktoren spielen eine große Rolle, ihr Einfluss auf die Entstehung von Stottern wird auf 70 bis 80 Prozent geschätzt. Ängste hingegen sind nicht ursächlich fürs Stottern. Aber wenn jemand stottert, verstärken die Ängste davor, einen Satz nicht beenden zu können und vielleicht ausgelacht zu werden, das Stottern weiter.

Welche Formen des Stotterns gibt es?
Stottern äußert sich sehr unterschiedlich: Manche Betroffene wiederholen ganze Worte oder einzelne Silben. Andere dehnen die Silben und wieder andere haben Blockaden. Alle drei Arten gibt es in verschieden starken Ausprägungen. Manchmal merkt der Zuhörer das kaum. Und manchmal gehen Sekunden vorüber, ehe der Stotterende ein Wort oder einen Satz beenden kann. Ebenso unterschiedlich sind die äußeren und inneren Reaktionen auf diese Symptome, die von angespannten Mitbewegungen, z.B. Kopfbewegungen, bis hin zur Vermeidung von Sprechsituationen reichen.

Wie sind die Reaktionen von Zuhörern auf das Stottern?
Immer wieder erleben Stotternde negative Reaktionen. Ihnen wird das Wort weggenommen: Der Zuhörer beendet also den Satz. Nicht selten werden sie auch ausgelacht. Zu den Reaktionen der Zuhörer auf das Stottern gibt es aber bisher nur wenige Studienergebnisse. Ein Promotionsprojekt läuft gerade an unserer Fachhochschule in Zusammenarbeit mit der Uniklinik RWTH Aachen. Wir wollen genauer wissen, wie Stottern und das Sprechen mit einer Sprechtechnik beim Zuhörer ankommt. Dazu sollen verschiedenen Gruppen Sprechproben von stotternden Kindern vorgelegt werden. Wir fragen dann die entsprechenden Reaktionen ab.

Kann man Stottern therapieren?
Ja, wir wissen, dass etwa 80 Prozent der Betroffenen das Stottern auch wieder verlieren. Mit und ohne Therapie. Allerdings gilt auch, je länger ein Mensch mit dem Stottern lebt, desto schwieriger ist eine Therapie. Erwachsene kann man nicht mehr ganz vom Stottern befreien. Bei ihnen haben sich häufig Sprechängste manifestiert. Sie tauschen schwierige Worte aus oder vermeiden es, in Situationen zu kommen, in denen ihr Stottern auffällt. Trotzdem können wir auch ihnen Werkzeuge an die Hand geben, die das Sprechen erleichtern und ihre Lebensqualität mit Stottern erhöhen.

Wie sehr schränkt Stottern die Betroffenen im Alltag ein?
Das kann schon gravierende Auswirkungen auf den Alltag haben. Die Wahrscheinlichkeit, in der Schule gehänselt zu werden, ist bei Stotternden leider immer noch groß. Negative Zuhörerreaktionen führen im Erwachsenenalter auch dazu, dass manche Stotternde schwierige Situationen vermeiden wollen. Sie schließen dann für sich bestimmte Berufe aus, in denen sie häufig und mit vielen verschiedenen Menschen sprechen müssten. Dabei gibt es auch prominente Stotterer, die zeigen, dass man eigentlich alles schaffen kann. So waren Marilyn Monroe oder Winston Churchill Stotternde. Auch der Schauspieler Bruce Willis stottert.

Seit Oktober 2018 erforscht Frau Prof. Kohmäscher im Rahmen einer bundesweiten Versorgungsstudie die Wirksamkeit von ambulanten Stottertherapien bei Kindern. Das Projekt wird vom Gemeinsamen Bundesausschuss gefördert und findet in Kooperation mit Prof. Stefan Heim von der Uniklinik RWTH Aachen statt. Im Rahmen der Studie werden die Probanden im Grundschulalter ein Jahr lang begleitet. 73 Kinder sind Teil der Untersuchung, die noch bis 2022 läuft. Mehr zur Studie erfahren Sie hier: PMS-KIDS

Interview: Jürgen Bröker, wsp

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