Große Gefühle
Markus Berges, Sänger der Band Erdmöbel, blickt in seinem Roman „Irre Wolken“ auf die 1980er Jahre zurück. Am 14. September lädt er in Telgte zu einem besonderen Heimatabend.
Manchmal gibt die Erinnerung einfach keine Ruhe. Schon einmal, in dem Song „Busfahrt“ auf dem Erdmöbel-Album „Altes Gasthaus Love“ (2003), hat Markus Berges eine Reminiszenz aus seiner Zeit als Mitarbeiter einer Psychiatrie einfließen lassen. Nun hat er dieser Lebensphase, fast 40 Jahre nach den realen Ereignissen, einen biografisch kaum verschlüsselten Roman gewidmet.
Wir schreiben das Jahr 1986. Der Ich-Erzähler hat gerade das Abi hinter sich und soll nach dem Wunsch seines Vaters mit dem Studium beginnen. Doch der Sohn hat andere Pläne. Er will zunächst ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren und das ausgerechnet in der „Hülle“, einer psychiatrischen Einrichtung am Stadtrand seines Heimatortes Telgte. Für dem 19-jährigen Erzähler ist das „FSJ“ ein Versuch, der spießigen Elternwelt etwas Eigenes entgegenzusetzen. Zum Beispiel den abgedroschenen Erzählungen seines Vaters: „Immer ging es um seine Kindheit in der kleinen Stadt. Die auch meine kleine Stadt war. Die kleine Stadt auch meiner Kindheit, welche einfach nicht aufhörte.“ Der Einzelgänger zieht sich in seine eigene Welt zurück, spielt in seinem Zimmer E-Gitarre und dreht den Verstärker auf. Oder er versucht, sich die Wut „wegzulesen“. Im Roman ist von Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ und Max Frischs „Montauk“ die Rede.
Dieser Artikel ist aus Heft 2/2024 des WESTFALENSPIEGEL. Ihnen gefällt, was Sie hier lesen? Gerne senden wir Ihnen im Rahmen unseres Schnupperabos zwei kostenlose Ausgaben unseres Magazins zu. Hier geht es zum Schnupperabo.
Der Neustart auf der „Station Johannes“, einer geschlossenen Abteilung der Anstalt, misslingt komplett. Das Desaster beginnt damit, dass dem schüchternen, übergewichtigen 19-Jährigen kein Kittel passt. Als eine Patientin flüchtet, ist der Sportmuffel zu schwerfällig, um sie schnell einzuholen. Eine andere Insassin bespuckt ihn mit Pudding. Eine dritte schlägt ihn mit voller Wucht ins Gesicht. Zu allem Überfluss verliert er noch die „heiligen“ Stationsschlüssel und muss sich hierfür in aller Demut entschuldigen. Den Leser weht nicht nur hier ein Hauch 1950er-Jahre-Pädagogik an. Allen Widrigkeiten zum Trotz gelingt es dem Erzähler, sich einzuleben. Nach drei Monaten ist er fester Teil des durchaus sympathischen Teams. Mehrmals wöchentlich begleitet er mit der Gitarre Gesangsnachmittage der Patientinnen. „Manchmal, wenn mir danach war, legte ich ‚Wer hat die Kokosnuss geklaut‘ ein bisschen soulig an.“ Er wechselt ohne zu murren Windeln, bezieht Betten und reinigt Gebisse. „Die Patientinnen und ich teilten ein Leben der Mahlzeiten, Spaziergänge, Raucherpausen, Gesangsrunden und Brettspiele.“
Filmreifer Auftritt
Doch dann taucht eine neue Patientin auf, Anna, und stellt alles auf den Kopf. Ihr erster Auftritt ist filmreif. Sie schließt sich in ein Bad ein und ruiniert es abbruchreif, während vor der Tür der Anstaltsarzt Beschwichtigungsversuche unternimmt. Auch Anna lebt sich ein, ihr Heilungsprozess macht Fortschritte. Sie findet Gefallen an dem Ich-Erzähler, den sie um den Finger wickeln kann. Auf einer stationsinternen Karnevalsfeier kommen sich die beiden näher. Beim gemeinsamen Schwof taut der Protagonist endlich auf. Anna zerrt ihn auf die Tanzfläche. „‘Ich bevorzuge Stümper‘, grinste sie. ‚Was?‘ ‚Ich bevorzuge dich.‘ Ich war mir nicht sicher, ob ich das richtig verstanden hatte. In ungesunder Lautstärke begann ‚Der Puppenspieler von Mexiko‘ von Roberto Blanco.“
Anna und er werden so etwas wie Verbündete. Bei einem Patientenspaziergang verabredet sich mit ihm heimlich zu einem Mondschein- Tête-à–Tête im Wald. Die vermeintliche Romanze ist jedoch, was dem liebesverblendeten Protagonisten erst jetzt bewusst wird, fahrlässig, ja hochgradig gefährlich. Anna ist schwer traumatisiert, sie fühlt sich schuldig, weil ihr Vater an der Entwicklung des Atomreaktors in Hamm beteiligt war. Der Reaktorunfall in Tschernobyl im selben Jahr intensiviert ihre paranoiden Anfälle. Mehr sei hier nicht vorweggenommen.
„Irre Wolken“ ist eine Story, die im Mikrokosmos des Provinziellen alles zu bieten hat, Spannung, Dramatik, Heimatfolklore, auch Erotik. Über die Innenperspektive des tragikomischen Helden kommt zusätzlich eine hohe Dosis Melancholie ins Spiel. Für ihn ist die Musik, ein Ventil, sein Allheilmittel. Der Gitarrist wird Mitglied einer Band, die in Groningen einen desaströsen Auftritt hinlegt. Die eingeflochtene Nebenhandlung sorgt für gelungene Situationskomik, die dem Romangeschehen seine Schwere nimmt und „Irre Wolken“ trotz allem zu einem leichten, unterhaltsamen Buch macht. Den Antihelden zeichnet sein spezielles Verhältnis zu Wörtern aus, die sich in seinen Gehirnwindungen eingenistet haben. Ein solches Wort ist „Annawolke“, ein anderes ihr betörendes „Gummy Smile“. Von hier aus ergeben sich Parallelen zu Berges‘ Songtexten, die allseits höchste Wertschätzung genießen. Wenn man so will, bietet der Roman ein ganzes Kaleidoskop solch poetisierter Alltagssequenzen.
Und zu guter Letzt: Mit der Figur der Anna hat Markus Berges in seinem dritten Roman eine starke literarische Frauenfigur erschaffen. Im westfälischen Kontext ähnelt sie der „Loo“ in Gustav Sacks Roman „Ein verbummelter Student“: Eine selbstbewusste, jedoch in sich selbst zerstörte Figur zwischen Euphorie und Depression, zwischen Lebenslust und irrationalen Übersprunghandlungen.
Walter Gödden
Am 14. September ist Markus Berges im Bürgerhaus seiner Heimatstadt Telgte zu Gast. Er liest aus „Irre Wolken“, spielt Gitarre und spricht mit Autorin Katrin Jäger und dem Publikum über sein Aufwachsen. Am 9. November liest und spielt Berges im Bunker Ulmenwall in Bielefeld. Weitere Termine hier.
Dieser Beitrag ist zuerst im WESTFALENSPIEGEL 02/2024 erschienen.