WESTFALENSPIEGEL-Buchtipp: Timon Karl Kaleyta – „Die Geschichte eines einfachen Mannes“
11.01.2022

Hans im Glück

WESTFALENSPIEGEL-Buchtipp: Timon Karl Kaleyta hat mit „Die Geschichte eines einfachen Mannes“ ein originelles Romandebüt vorgelegt.

Spätestens seit Voltaires „Candide“ (1759) kennen wir den Typus eines gutgläubigen Patrons, der einfach unbelehrbar ist und sich durch nichts in der Welt von seiner eigenen Meinung abbringen lässt. In Timon Karl Kaleytas Romandebüt „Die Geschichte eines einfachen Mannes“ (2021) hat sich so ein seltsamer Kauz ins postmoderne Zeitalter hinübergerettet. Die Titelfigur ist derart von ihrer Auserwähltheit überzeugt, dass sie nur das wahrnimmt, was ins eigene Weltbild passt. Der Roman bietet Anschauungsmaterial für notorischen Narzissmus in Reinkultur.

Da der neurotische Hauptakteur zugleich als Erzähler auftritt, stellt sich die Frage: Wie zuverlässig ist das, was er da zum Besten gibt? Was darf man diesem „Aufschneider“ überhaupt glauben? Der Leser wird hier in ein Spiel hineingezogen, das eine bizarre Komik entfaltet. Größtenteils verfolgt er das Geschehen mit ungläubigem Staunen und hofft, dass der zu Übersprunghandlungen neigende Erzähler einen kühlen Kopf bewahrt. Doch dann schießt jener unverbesserliche Gernegroß wieder meilenweit übers Ziel hinaus und schildert uns die ersten gut 35 Jahre seines Lebens in derart schillernden Farben, dass man jedes Vertrauen in ihn verliert.

Künstliche Glocke der Selbstzufriedenheit

So erfahren wir, dass er von Geburt an vom Glück geküsst ist: „Vom ersten mir in Erinnerung verbliebenen Moment empfand ich mein Leben als einen einzigen Segen, und das, obgleich meine Eltern nicht etwa Anwälte oder höhere Beamte, gar Diplomaten oder Unternehmer waren, für die Geld keine Rolle spielte, ganz im Gegenteil. Sie waren zwei einfache, unerbittlich für unser familiäres Auskommen schuftende Fabrikarbeiter, die tagein, tagaus von der schweren Arbeit erschöpft und von oben bis unten mit Ruß und Öl verschmiert nach Hause kamen, um es mir, ihrem einzigen Kind, nie auch nur am Allergeringsten mangeln zu lassen.“

Timon Karl Kaleyta, Foto: Christian Werner, Piper Verlag

Timon Karl Kaleyta, Foto: Christian Werner, Piper Verlag

So lebt er wie Hans im Glück in einer künstlichen Glocke der Selbstzufriedenheit. Das Gefühl, ein Tausendsassa zu sein, ist jedoch nicht nur eine persönliche Marotte, es wird dem Erzähler auch von anderen einsuggeriert. Auf dem Gymnasium kann er sich der Annäherungsversuche des Referendars kaum erwehren. Jener rät ihm: „Gebrauchen Sie Ihre Ellenbogen, wo Sie nur können -– Sie haben jedes Recht dazu, Ihnen bleibt kaum etwas anderes übrig als Rücksichtslosigkeit, merken Sie sich das.“

„Kleiner Kindskopf“

Auch auf der Universität, zunächst während des Soziologiestudiums in Bochum, findet er Protegés. Und das, obwohl er sich gleich mit einem Dozenten anlegt. Ihm will er beweisen, dass es sehr wohl möglich ist, als Kind aus einfachem Elternhaus sein Studium erfolgreich abzuschließen – was er auch tatsächlich schafft. Nach wie vor mit rühriger Unbeholfenheit ausgestattet, bewirbt er sich um ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes. Auch damit hat er Erfolg. Obwohl er kein Wort Spanisch spricht, wird ihm ein Studienplatz an der Universität Madrid zugewiesen. Statt die Universität zu besuchen, flaniert er jedoch ziellos durch die spanische Metropole. Mit den Fördergeldern geht er so saumselig um, dass er bald pleite ist. Die spanische Schönheit Noemie verhilft ihm zu einer Bleibe und verhindert somit Schlimmeres. Er lässt sie jedoch von einem Moment auf den anderen im Stich, um sein Studium in Düsseldorf fortzusetzen. Ein Freund aus reichem Elternhaus hilft ihm aus der Patsche und kommt für seine Schulden auf. Er leiht ihm auch die familiäre Jaguar-Luxuskarosse, mit der der Protagonist fortan an der Universität vorfährt, um sich von anderen bewundern zu lassen.

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Auch dort macht man ihm Avancen. Sein neuer Professor bietet ihm eine Stelle als Tutor an, ein Job, der dem Erzähler alle Möglichkeiten bietet, seine Eitelkeiten zu befriedigen. Diesmal findet er bei seiner neuen Lebenspartnerin, der reichen asiatischen Grazie Soyoung Choi Unterkunft und Unterstützung. Für sie ist der Protagonist ein „kleiner Kindskopf“, der zur Räson gebracht werden müsse. Auch diese Beziehung geht durch Verschulden des Erzählers zu Bruch.

Erfolg steigt zu Kopf

Schuld daran ist nicht zuletzt die Musik. Sie ermöglichte es dem Protagonisten, sein Traumtänzer-Dasein bis über das dreißigste Lebensjahr hinaus auszuleben. Obwohl musikalisch untalentiert, verfügt er über die besondere Gabe, dadaistische Songtexte aus dem Ärmel schütteln zu können und sie auf der Bühne exzessiv zu zelebrieren. In der Clubszene erlangt er hierdurch einen gewissen Kultstatus. Doch der Erfolg steigt ihm zu Kopf und er legt sich nicht nur mit seinen Bandkollegen an, sondern auch mit Musikmanagern, die seine Unerfahrenheit und hypertrophe Selbstüberschätzung ausnutzen. Ein geplanter Plattenvertrag kommt nicht zustande, was den Protagonisten in den finanziellen Ruin treibt. Wieder einmal steht er vor dem Nichts.

Timon Karl Kaleyta: „Die Geschichte eines einfachen Mannes“, Piper Verlag, 320 S., 20 Euro

Timon Karl Kaleyta: „Die Geschichte eines einfachen Mannes“, Piper Verlag, 320 S., 20 Euro

Am Schluss hat er bei seinen Freunden jeglichen Kredit verspielt. Völlig aus- und finanziell abgebrannt haust er in einer Berliner Hinterhof-WG. Doch das Schicksal meint es abermals gut mit ihm. Ein dubioser Kunsthändler nimmt sich seiner an und stellt ihn als Hausmeister ein. Durch körperliche Arbeit erlangt er wieder Boden unter den Füßen. Aber wird das auf Dauer gutgehen?

Mit der Figur des „einfachen Mannes“, der natürlich alles andere als ein einfacher Mann ist, hat Timon Karl Kaleyta einen originellen Charakter erschaffen, dessen Werdegang und Schicksal er über gut 300 Romanseiten verfolgt. Dass der Autor mit seinem Antihelden das Geburtsjahr, die Herkunft Bochum und die Stationen des Werdegangs (unter anderem auch die musikalische Karriere, er ist Mitglied der Band „Susanne Blech“) teilt, ist eine zusätzliche Pointe der grandios betriebenen, unterhaltsamen Identitätscamouflage. Eine wohlkalkulierte, provozierende Erzählhaltung, die den besonderen Reiz des Textes ausmacht.

Walter Gödden

Dieser Buchtipp erschien im WESTFALENSPIEGEL 6/2021. Weitere Leseempfehlungen finden Sie hier

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