Erstmals in Münster wagten sich 1972 Schwule und Lesben auf die Straße, um gegen Diskriminierung zu protestieren. Einige blieben jedoch am Rand der Demonstration, da sie Diskriminierung fürchteten. Foto: Rosa Geschichte. Schwul-lesbisches Archiv Münster
29.04.2022

„Homos raus aus den Löchern“

Vor 50 Jahren, am 29. April 1972, demonstrierten erstmals in der Bundesrepublik Schwule und Lesben für ihre Rechte. Ort der Demonstration war Münster. Der Jahrestag wird mit einem großen Festakt gefeiert.

Erstaunt und teilweise auch fassungslos schauten Passantinnen und Passanten, als vor 50 Jahren Schwule und Lesben mitten in der Innenstadt am Prinzipalmarkt demonstrierten. Das gesellschaftliche Klima war Anfang der 1970er Jahre noch ein vollkommen anderes als heute. Homosexualität war nicht nur verpönt, sondern wurde auch kriminalisiert. Bis zum 1. September 1969 hatte in der alten BRD der Paragraf 175 in seiner von den Nazis verschärften Form Bestand gehabt. Einvernehmlicher Sex zwischen Männern galt als Straftat. Zum 1. September 1969 wurde der sogenannte „Schwulen-Paragraf“ entschärft, aber nicht aufgehoben.  Erst 1994 wurde dieser aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. 

Anne Henscheid kämpfte für die Rechte von Schwulen und Lesben. In Münster ist heute eine Straße nach ihr benannt.

Anne Henscheid kämpfte für die Rechte von Schwulen und Lesben. In Münster ist heute eine Straße nach ihr benannt. Foto: Udo Plein, Rosa Geschichten. Schwul-lesbisches Archiv Münster

„Ein Outing konnte den Verlust des Jobs oder der Wohnung bedeuten“, sagt die Münsteraner Historikerin Sabine Heise. In diesem repressiven gesellschaftlichen Klima zeigten 200 Schwule und Lesben in Münster Gesicht. „Homos raus aus den Löchern“, hieß es auf einem Plakat, das die Sekretärin Anne Henscheid in die Luft hielt. „Dieser Satz brachte die Anliegen der Demonstranten auf den Punkt“, sagt Heise, die unter anderem „queergeschichtliche Stadtrundgänge“ in Münster veranstaltet. Sie erklärt: „Es ging den Frauen und Männern um ihre Rechte, vor allem aber darum, in der Gesellschaft sichtbar zu werden und ohne Angst leben zu können.“

Warum gerade das beschauliche Münster zum Ort der ersten Homosexuellen-Demo in Deutschland wurde? „Durch die 1968er Bewegung gab es einen Aufbruch in vielen gesellschaftlichen Bereichen. Eine homosexuelle Studentengruppe an der Universität war schließlich eine Keimzelle der Emanzipationsbewegung in Münster. Ihr Mitbegründer Rainer Plein organisierte die Demo“, berichtet die Historikerin.

Festakt in Münsters guter Stube

Der Zug durch die Münsteraner Innenstadt vor 50 Jahren gab schließlich einen Impuls für das weitere Engagement von Schwulen, aber auch von Lesben. „Sie mussten zwar nicht gegen den Strafrechtsparagrafen Paragrafen 175 kämpfen, sich aber gegen eine Hetzkampagnen wehren und Informationsfreiheit gerichtlich erstreiten. Außerdem ging es ihnen um die Emanzipation aller Frauen“, so Heise.

Die Demonstranten griffen in ihren Plakaten damals gängige Diskriminierungen auf. Foto: Rosa Geschichten. Schwul-lesbisches Archiv Münster

Die Demonstranten griffen in ihren Plakaten damals gängige Diskriminierungen auf. Foto: Rosa Geschichten. Schwul-lesbisches Archiv Münster

Am heutigen Freitag wird ein Festakt zum Jubiläum der Demonstration mitten in Münsters „guter Stube“ – im historischen Rathaus – gefeiert. Für das Organisationsteam um Norman Devantier vom KCM Schwulen Zentrum Münster ein Zeichen, dass die queere Bewegung in der Mitte der Stadtgesellschaft angekommen ist. Nicht nur Zeitzeugen wie Halina Bendkowski, Martin Dannecker und Sigmar Fischer berichten bei dem Empfang aus ihren Erinnerungen an die Demonstration. Auch Ministerpräsident Hendrik Wüst wird als Gastredner das historische Ereignis würdigen. Außerdem erscheint ein Dokumentarfilm. „Die Dreharbeiten konnten im vergangenen Jahr überall problemlos stattfinden, sogar in Räumen des Bistums Münster“, berichtet Sabine Heise. Dies zeige, wie stark sich in den vergangenen Jahrzehnten das gesellschaftliche Klima verändert hat, ist die Historikerin überzeugt.

Annette Kiehl, wsp

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