Zweitzeugin Katharina Müller-Spirawksi (l.) mit der Holocaust-Überlebenden Erna de Vries. De Vries verstarb im Oktober 2021 im Alter von 98 Jahren, ihre Geschichte lebt dank der Zweitzeugen weiter. Foto: Zweitzeugen e.V.
26.10.2021

Ihre Geschichten leben weiter

Der Verein „Zweitzeugen“ erzählt die Geschichten von Holocaust-Überlebenden weiter. So bleiben ihre Geschichten lebendig, auch wenn die Zeitzeugen selbst sterben. 

Die beiden Worte unterscheiden sich nur durch einen kleinen Buchstaben, doch die Idee dahinter ist groß: Wenn Zeitzeugen sterben, müssen Zweitzeugen ihre Geschichten weitererzählen. Der Verein „Zweitzeugen“ erzählt die Geschichten von Holocaust-Überlebenden. Eine unermüdliche Arbeit gegen das Vergessen.

Katharina Müller-Spirawski ist eine Zweitzeugin. Sie lebt in Bünde und hat den Verein 2014 mitgegründet. Entstanden sei das Projekt, so erzählt sie, aber schon vier Jahre zuvor – in Münster. Die beiden Studentinnen Sarah Hüttenberend und Anna Damm sollten in ihrem Foto- und Designstudium eine Hausarbeit über Porträts schreiben. Sie beschließen: Wir fliegen nach Israel und sprechen mit Holocaust-Überlebenden. Tatsächlich werden die beiden jungen deutschen Frauen dort meist herzlich und offen empfangen, sogar in die Wohnungen der Überlebenden eingeladen. Bei Kaffee und Kuchen hören sie nicht nur Schreckensgeschichten, sondern beeindruckende Überlebensgeschichten, Lebensgeschichten. Und hinter Zahlen und Fakten aus dem Geschichtsbuch treten plötzlich Namen und Gesichter hervor.

Ihre Geschichte darf mit dem Tod nicht enden

Mit zehn Geschichten und Fotos der Interviewten kommen die beiden zurück, gestalten eine Ausstellung an der Hochschule – und sind bewegt vom einhelligen Wunsch der Interviewten: dass mit ihrem Tod ihre Geschichte nicht enden darf. Die Idee der Zweitzeugen wird geboren.

Brief zweier Schülerinnen an Erna de Vries. Foto: Zweitzeugen e.V.

Brief zweier Schülerinnen an Erna de Vries. Foto: Zweitzeugen e.V.

Katharina Müller-Spirawski hatte schon im Studium Kontakt zu den beiden Frauen und arbeitete an dem Projekt mit. Sie war selbst noch Lehramtsstudentin, als ihre Dozentin die Auschwitz-Überlebende Erna de Vries einlud, vor Grundschulkindern ihre Geschichte zu erzählen. „Es war das erste Mal, dass ich eine Auschwitz-Überlebende getroffen habe“, erinnert sie sich.

„Was sind Gaskammern?”

Sprachlos habe sie ihr zugehört, war gerührt und erwartete, dass alle weinen, doch stattdessen stellten die Kinder ganz unbefangen Fragen. Ein Junge wollte wissen: „Was sind Gaskammern?“ Müller-Spirawski war wie vor den Kopf gestoßen. Darf man einer Frau, die ihre Mutter in einer Gaskammer verloren hatte, eine solche Frage stellen? „Das war mein Tabu. Aber für Erna de Vries war es kein Tabu. Sie hat erklärt, was Gaskammern waren, der Junge hat genickt und es verstanden. Die Kinder waren dankbar, dass sie ernst genommen wurden, dass man ihnen das zugetraut hat.“ In diesem Moment verstand sie, dass man auch mit Grundschulkindern über den Holocaust sprechen kann.

Mittlerweile haben die „Zweitzeugen“ 39 Über-Lebensgeschichten dokumentiert, eine Wanderausstellung konzipiert und bundesweit 9000 Kindern und Jugendlichen in Schulen und Bildungseinrichtungen diese Geschichten erzählt. Aus dem ehrenamtlichen Studienprojekt ist ein Verein mit zehn Hauptamtlichen, 100 aktiven Ehrenamtlern und 120 Mitgliedern erwachsen, ein anerkannter Träger der freien Jugendhilfe und bereits vielfach ausgezeichnet. „Eigentlich sind wir ein kleines Sozialunternehmen“, sagt Katharina Müller-Spirawski.

Besuche an Schulen

Was sie immer wieder beeindruckt: wie Kinder durch die Geschichten animiert werden, über eigene Erfahrungen zu sprechen. Über eigene Ausgrenzung, über Mobbing. Ein Kind mit Migrationshintergrund sagte sogar einmal: „Einen Leichenmarsch kenne ich auch.“

Gegen das Vergessen

Lesen Sie, welche Orte und Menschen die Erinnerung an die Kriegsjahre und die Verbrechen der Nationalsozialisten auch 75 Jahre nach Kriegsende wach halten.

Mindestens drei Unterrichtsstunden, lieber sechs, kommen die Zweitzeugen in die Klassen, oft entstünden Diskussionen über Gerechtigkeit, über die Frage nach dem Warum, über die AfD oder Donald Trump. „Wenn die Kinder verstehen, dass sie mit den Lebensgeschichten, die wir weitertragen, die Demokratie heute beeinflussen können, dann haben wir alles richtig gemacht.“ Am Ende schreiben die Kinder und Jugendlichen Briefe an die Zeitzeugen, die die Zweitzeugen dann an die Überlebenden übergeben. In Videofilmen auf der Website des Vereins sind einige dieser Momente festgehalten: Das sind rührende, bewegende Dokumente.

Katharina Müller-Spirawksi hat in der Begegnung mit den Zeitzeugen auch Freunde gefunden. Ein besonderer Freund war Siegmund Pluznik. „Ein lustiger, kluger, starker Mann, wie mein Opa.“ Sie war 25, er 89 Jahre alt, als sie sich das erste Mal begegneten. Er erzählte ihr, wie er heimlich Unterricht bekam, als die Nazis Juden den Schulbesuch verboten. Er erzählte ihr, wie er in den Widerstand ging, mit gefälschten Papieren auf der Flucht war, immer voller Angst. Er saß weinend vor ihr, als er erzählte, dass er 35 Menschen seiner Familie verloren hat. Aber er erzählte ihr auch von seiner großen Liebe, von seinen zwei Kindern, von dem schlechten Essen im Seniorenheim, nahm an ihrem Leben teil und ermutigte sie, eine eigene Familie zu gründen.

„Als Siegmund Pluznik starb, war es ein Schock für mich“, sagt Müller-Spirawski. „Es wurde so real, dass seine Geschichte in diesem Moment weg gewesen wäre.“ Pluznik hat nach dem Krieg selbst akribisch Fakten und Dokumente zum jüdischen Widerstand gesammelt. Sein Archiv hat er dem Verein vererbt. Und Katharina Müller-Spirawski sein Leben.

Sabine Müller

Weitere Informationen zum Verein gibt es auf der Internetseite der Zweitzeugen.

Der Beitrag stammt aus Heft 5/2021 des WESTFALENSPIEGEL. Ihnen gefällt, was Sie hier lesen, dann schicken wir Ihnen im Rahmen unseres Probeabos gerne zwei kostenlose Ausgaben des WESTFALENSPIEGEL. Hier geht es zur Anmeldung zum Probeabo.

Serie: Jüdisches Leben

1700 jüdisches Leben in Deutschland. Der WESTFALENSPIEGEL feiert mit. Also: L’Chaim – auf das Leben!

Lesen Sie auch im Bereich "Gesellschaft, Politik / Wirtschaft"

Testen Sie den WESTFALENSPIEGEL

Ihnen gefällt, was Sie hier lesen? Dann überzeugen Sie sich von unserem Magazin