Im Engpass
Vor einem Jahr wurde das Deutschlandticket eingeführt. Heute gibt es mehr ÖPNV-Fahrgäste, aber die Finanzierung des Angebots ist unsicher.
Im Westfalentarif, der den Verkehrsraum von Westfalen-Lippe abdeckt, hat sich die Zahl der verkauften Deutschlandtickets seit der Einführung am 1. Mai 2023 verdreifacht. Im Januar 2024 lag die Zahl bei 337.000. Bei der Hälfte dieser Tickets handelt es sich jedoch um das „Deutschlandticket Schule“, das vom Land NRW eingeführt wurde, betont Dr. Oliver Mietzsch, Mitglied der Geschäftsführung der Westfalentarif GmbH. „Betrachtet man insgesamt die Anzahl der Neukunden des Standard-Deutschlandtickets, dann haben wir im Westfalentarif einen Zuwachs von 8,9 Prozent verzeichnet. Diese Kunden hatten den Befragungen zufolge zuvor noch kein ÖPNV-Ticket, weder als Einzelfahrkarte noch im Abo.“
Einnahmen sind drastisch gesunken
Trotz eines Plus an Kunden von knapp neun Prozent steht der Westfalentarif seit der Einführung des Deutschlandtickets unter finanziellem Druck. Denn: Zahlreiche Deutschlandticket-Abonnenten hatten zuvor ein deutlich teureres ÖPNV-Abo und sind nun in das günstigere Tarifmodell gewechselt. „Die monatlichen Einnahmen sind daher um 63 Prozent bzw. 27,9 Millionen Euro gesunken“, so Mietzsch. „Dem stehen Einnahmen aus dem Deutschlandticket von lediglich 16,8 Mio. Euro pro Monat gegenüber.“
Die Mindereinnahmen werden vom Bund und den Ländern ausgeglichen in Höhe von insgesamt 3 Mrd. pro Jahr. „Es gibt jedoch einen Fehlbetrag, der bundesweit bei ungefähr 4,1 Milliarden Euro liegt. 2023 war dies noch nicht kritisch, da die Ausgleichszahlungen für das gesamte Jahr geflossen sind, während das Deutschlandticket erst im Mai startete und Bund und Länder vereinbarten, die in 2023 nicht verbrauchten Mittel für 2024 zu übertragen. Spätestens 2025 wird aber eine erhebliche Finanzlücke klaffen und es ist bislang unklar, ob der Bund sich daran beteiligen wird“, so der Geschäftsführer. Falls das nicht der Fall sein wird, könnte dies spürbare Konsequenzen zur Folge haben: „Dann müssten wir den Preis erhöhen oder auf dieses Ticketangebot verzichten“, sagt Mietzsch.
Engpässe sorgen für Verspätungen
Das Deutschlandticket kostet 49 Euro. Der Preis sei jedoch nicht unbedingt der entscheidende Grund für Pendler oder Reisende, den ÖPNV zu nutzen, berichtet Matthias Hehl, ebenfalls Mitglied der Westfalentarif-Geschäftsführung mit Blick auf eine ADAC-Studie zur Mobilität um ländlichen Raum: „Ein fehlendes ÖPNV-Angebot, zeitaufwändige Verbindungen und mangelnder Komfort halten demnach Menschen davon ab, Bus und Bahn zu nutzen.“ Um das Angebot in der Region zu verbessern, gilt es einige Engstellen zu beseitigen. Hehl nennt den eingleisigen Streckenabschnitt zwischen Münster und Lünen als Beispiel. 2028 „feiert“ dieser Engpass 100-jähriges Jubiläum. Obwohl klar ist, dass der Abschnitt für große Verspätungen im Nah- wie im Fernverkehr sorgt, wurde der Engpass bislang nicht beseitigt.
Als ein wichtiges Projekt für den Ausbau des ÖPNV-Angebots gilt die S-Bahn-Münsterland mit der Reaktivierung der Bahnstrecke von Münster nach Sendenhorst. Auch hier gibt es bereits einige Verzögerungen; derzeit läuft noch ein Planfeststellungsverfahren, so dass der ursprünglich anvisierte Betriebsstart 2025 nicht mehr realistisch ist. „Zur Verkehrswende gehört nicht nur ein günstiges Ticket, sondern auch eine Stabilisierung und ein Ausbau des Angebotes.Wenn Projekte wie eben die S-Bahn-Münsterland und der zweigleisige Ausbau zwischen Münster und Lünen zügig umgesetzt würden, dann wäre das ein großer Schritt nach vorn“, so Hehl.
In Heft 2/2023 des WESTFALENSPIEGEL haben wir ausführlich über die Verkehrswende in Westfalen berichtet. Lesen Sie auch unser Dossier zum Thema Mobilität.
NRW-Verkehrsminister Oliver Krischer nennt das Deutschlandticket ein „Erfolgsmodell“: „Es lichtet den Tarifdschungel, leistet einen Beitrag zum Klimaschutz und entlastet Pendlerinnen und Pendler mit einem Milliardenbetrag.“ Auch die Westfalentarif-Geschäftsführer sind sich einig, dass das Ticket dem ÖPNV einen Schub gegeben hat. Durch die Digitalisierung der Tickets sei die mitunter schwierige Sichtkontrolle von Papiertickets weitgehend weggefallen. Die Fahrt über Tarifgrenzen hinweg ist weniger kompliziert; mitunter können Fahrgäste es sogar bis über die niederländische Grenze nutzen. Matthias Hehl mahnt jedoch größere Anstrengungen an: „Das Deutschlandticket ist ein Erfolg, auf dem Weg zur Verkehrswende braucht es jedoch weitere große Investitionen.“
Krischer spricht von einigen „Baustellen“, die noch zu bearbeiten seien. „Das beste Ticket nutzt wenig, wenn der Bus nicht kommt oder die Bahn dauernd Verspätungen hat“, sagt der Minister. Der Ausbau und die Modernisierung der Schieneninfrastruktur seien große Herausforderungen für die kommenden Jahre.
Annette Kiehl, wsp