Menschen in psychischen Krisen müssen oft lange auf einen Therapieplatz warten. Foto: pixabay
01.10.2021

„Im Notfall wird niemand abgewiesen“

Lange Wartelisten auf einen Therapieplatz, hohe Kosten bei der Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Was steckt dahinter? Ein Gespräch mit dem LWL-Krankenhausdezernent Prof. Dr. Meinolf Noeker.

Weshalb sind die Wartelisten für einen Platz beim Psychotherapeuten so lang?
Das Phänomen der langen Wartelisten ist zum einen auf eine mutmaßliche Zunahme der sogenannten stressreaktiven Störungsbilder zurückzuführen. Und zum anderen auf einen sinkenden Schwellenwert, sich im Falle einer psychischen Erkrankung auch Hilfe zu holen. Die soziale Umgebung bringt heute sehr viel mehr Verständnis dafür auf, als das noch vor 30 oder 40 Jahren der Fall war. Die Erkenntnis, dass man sich für eine solche Erkrankung nicht schämen muss, setzt sich immer mehr durch. Und das ist richtig und gut so.

Welche Erkrankungen zählen zu den stressreaktiven Störungen?
Beispielsweise die Depressionen oder auch die Angststörungen. Diese haben zu tun mit Schicksalsschlägen, mit Beziehungsstress innerhalb von Familien oder mit beruflichen Belastungsfaktoren, die man nicht zufriedenstellend bewältigen kann. Hier können sich Abwärtsspiralen ergeben, wenn Misserfolge bei der Problembewältigung zusätzlich Selbstabwertung und Kränkungserfahrungen anstoßen, die dann wiederum die Kraft und Zuversicht zur Lösungssuche rauben.

Was ist der Unterschied zwischen Traurigkeit und einer Depression?
Das ist nicht immer leicht. Bei der Depression gibt es zwischen weiß und schwarz unendlich viele Graustufen. Hellgrau wäre zum Beispiel: Man hat über Wochen negative Gedanken über sich selbst, die Welt und die Mitmenschen da draußen und über die eigene Zukunft Morgens kommt man schwer aus dem Bett, man hat keine Idee weswegen man sich aufraffen soll, weil da draußen ja doch nichts Schönes wartet. Dunkelgrau bis schwarz wird es wenn diese Gedanken und die Kraftlosigkeit ständige Begleiter werden, man sich von ihnen nicht mehr distanziert bekommt und sich schliesslich das Gefühl einschleicht, Erlösung aus dieser Qual nur noch finden zu können, wenn man das Leben beenden würde.

Die Grenzen zwischen Traurigkeit und einer Depression sind fließend. Foto: pixabay

Die Grenzen zwischen Traurigkeit und einer Depression sind fließend. Foto: pixabay

Was ist zu tun, wenn ich diese Symptome bei mir oder bei einem Angehörigen feststelle?
Ein erster Schritt – solange man sich noch in der hellgrauen Phase befinden – kann ein Gespräch mit einer Vertrauensperson sein, in dem Sie sich die Sorgen wirklich von der Seele reden. Hilft das nicht, oder hat man niemanden, mit dem man darüber sprechen kann, ist auch der Hausarzt eine gute erste Adresse. Ab einem gewissen Punkt braucht man aber die Beurteilung eines Profis, ob es sich um ein normales menschliches Auf-und-Ab handelt oder ob doch eine behandlungswürdige Störung vorliegt.

Kann mir der Hausarzt denn helfen, wenn ich bereits eine Depression habe?
Der Hausarzt wird in der Routinepraxis selten genügend Zeit haben, den psychotherapeutischen Behandlungsteil abzudecken. Hausärzte sich daher oft auf den medikamentösen Teil einer Therapie zurückgeworfen. Dies kann im Einzelfall ein erster guter Schritt sein, es kann aber auch klar unzureichend sein. Dann überweisen sie vielfach zum Psychiater oder Psychotherapeuten. Dort sind die Betroffenen jedoch vielfach damit konfrontiert, dass sie nur auf die Warteliste kommen. Bei extremer Not, wenn der Zustand dunkelgrau oder schwarz ist, um im Bild zu bleiben, kommen die Erkrankten auch direkt zu uns in die Kliniken. Patientinnen und Patienten mit einer Selbst- oder Fremdgefährdung erhalten immer einen Behandlungskontakt und werden bei Bedarf auch stationär aufgenommen, selbst wenn unsere Kliniken voll belegt sein sollten. Im Notfall wird niemand abgewiesen.

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Der LWL unterhält auch Ambulanzen, wie arbeiten diese?
In unseren sogenannten Psychiatrsichen Institutsambulanzen  haben wir alle notwendigen therapeutischen Professionen  am Start: Psychiatrische Fachärzte, die den diagnostischen Prozess steuern, körperliche Grunderkrankungen mit im Blick haben, und besonders  die Entscheidungen zu den individuell richtigen Medikamente treffen. Wir haben Psychotherapeuten, die den individuellen Störungsursachen in der Biographie nachgehen.  Zusätzlich gibt es Sozialarbeiter, die zum Beispiel die beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten im Blick haben. Und nicht zuletzt gibt es natürlich Pflegekräfte, die im Grunde für alles ansprechbar sind.

Was ist der Vorteil der Ambulanzen?
Zunächst einmal, dass sie noch enger verzahnt mit unseren stationären und tagesklinischen Angeboten zusammenarbeiten können als dies niedergelassene Praxen können. Verschlechtert sich bei einem Patienten die Situation, kann er von einer Ambulanz in die Tagesklinik und von der Tagesklinik ins Krankenhaus wechseln. Verbessert sich die Situation wieder, funktioniert der Weg auch umgekehrt. Zudem sind die Institutsambulanzen wichtig bei der Rückfallprophylaxe. Dort sehen die Therapeuten und Ärzte die Patienten regelmäßig und können rechtzeitig eingreifen, wenn sich der Zustand der Erkrankten wieder verschlechtert. Die Ambulanzen sind also eine Art dauerhaftes Frühwarnsystem bei chronischen Verläufen.

Prof. Dr. Meinolf Noeker. Foto: LWL

Prof. Dr. Meinolf Noeker. Foto: LWL

Die Ressourcen für die Behandlung der vielen Erkrankten scheinen angesichts langer Wartelisten knapp. 
Das stimmt. Deshalb müssen wir in den Krankenhäusern auch im Blick behalten, wen wir wie intensiv behandeln, um für die Gesamtbevölkerung den größtmöglichen Nutzen zu erzeugen. Der Schweregrad sowie der erwartbare Therapieerfolg sind dabei wichtige Gradmesser.

Psychische Erkrankungen verursachen durch Behandlung, Krankheitstage und Frühverrentung enorme Kosten.
Das ist einerseits richtig. Allerdings sollte man auch beachten, dass eine erfolgreiche Behandlung neben der Verhinderung von menschlichem Leid auch gigantische Einsparungen bewirken kann. Wenn wir durch eine Therapie erfolgreich verhindern , dass zum Beispiel ein junger Mensch im Alter von 30 Jahren  arbeitsunfähig und in der Folge frühverrentet wird, dann spart das den Sozialversicherungen und damit allen Beitragszahlern einen Millionenbetrag. Mit zwei solchen Einzelfällen können wir eine komplette Station für ein ganzes Jahr finanzieren.

Welche Forderungen an die Politik leiten Sie daraus ab?
Bei allem Respekt für unsere erfolgreiche Arbeit in den Ambulanzen und Kliniken kann es nicht darum gehen, alle schwierigen und konflikthaften Lebenslagen  zu psychiatrisieren und sofort nach psychotherapeutischer Hilfe zu rufen. Belastungen, schwierige Lebenserfahrungen, Krisen und Konflikte sind – richtigerweise – Teil des menschlichen Lebens und müssen durchlebt, ausgefochten und ausgehandelt werden. Dennoch: Ich würde mir wünschen, dass die Kapazitäten in den Krankenhausambulanzen weiter ausgebaut werden und wir dann noch mehr Spezialisierungen für einzelne Störungsbilder ausbauen können. Das wäre der therapeutisch und wirtschaftlich beste Schritt, um die Wartelisten abzuarbeiten und um eine Versorgung schwierigerer Fälle zu gewährleisten.

Interview: Jürgen Bröker

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