Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik Hamm. Foto: LWL
10.12.2019

Kinder haben häufiger Depressionen

Die DAK hat eine Studie vorgestellt, die verdeutlicht, dass immer mehr Kinder und Jugendliche an psychischen Erkrankungen leiden. Fast ein Viertel aller Schulkinder in Nordrhein-Westfalen zeigt demnach bereits psychische Auffälligkeiten. Ein weiteres wichtiges Ergebnis: Bei Stadtkindern zwischen 15 und 17 Jahren wird zu 25 Prozent häufiger eine Depression diganostiziert als bei Gleichaltrigen auf dem Land, so der aktuelle Kinder- und Jugendreport der DAK-Gesundheit „Ängste und Depressionen bei Schulkindern“.

Professor Dr. Dr. Martin Holtmann ist ärztlicher Direktor der LWL-Universitätsklinik Hamm, einer der größten Fachkliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland. Im Interview mit westfalenspiegel.de ordnet Holtmann die Ergebnisse der DAK-Studie ein.

Die DAK-Studie spricht von einer Zunahme psychischer Auffälligkeiten bei Kinder und Jugendlichen. Deckt sich das mit Ihren Beobachtungen im Klinikalltag?
Die Zunahme psychischer Erkrankungen beschäftigt uns in den letzten Jahren sehr. Wir nehmen vor allem wahr, dass immer mehr Kinder und Jugendliche mit Depressionen behandelt werden. Aber auch andere Krankheitsbilder treten häufiger auf. Ein Indiz dafür ist auch, dass Lehrer bei uns aktiv nach Fortbildungsmöglichkeiten im Umgang mit psychisch auffälligen Kindern fragen.

Welche psychischen Erkrankungen treten bei Kindern denn häufig auf?
Wenn wir über kleinere Kinder sprechen, dann sind das vor allem Angststörungen. Diese lassen sich sehr gut behandeln. Meistens geschieht das auch nicht in der Klinik. Auch die Fallzahlen von ADHS oder Kindern, die sich mit Regeln und Grenzen schwer tun, ist gestiegen. In unserem Klinikalltag ist der Anstieg bei den depressiven Erkrankungen aber tatsächlich am deutlichsten.

Haben Sie dafür eine Erklärung?
Auf der einen Seite kann man sicher feststellen, dass Ärzte, Therapeuten, aber auch Eltern, Lehrer und Erzieher besser aufgeklärt sind. Sicher fallen dadurch mehr Erkrankungen auf und werden letztlich zum Glück auch behandelt. Aber ebenso sicher ist auch die Anzahl der Erkrankungen in den vergangenen Jahren bei Kindern und Jugendlichen gestiegen.

Haben Kinder mehr Stress?
Das lässt sich nicht eindeutig beantworten. Aber man kann auf jeden Fall sagen, das die Entwicklung des Smartphones so radikal in alle Lebensbereiche hineinwirkt hat, wie kaum etwas zuvor. Smartphones und die damit verbundenen Apps sind allgegenwärtig. Auf dem Pausenhof, beim Mittagessen – es gibt kaum Handypausen. Die Veränderung, die das im Leben der Erwachsenen mit sich bringt, wirkt sich auch 1:1 bei den Kindern und Jugendlichen aus. Das  bekommen wir jetzt zu spüren.

Das Smartphone also als Risikofaktor, gibt es weitere?
Ja, eine ganze Reihe: Ein ganz wichtiger Risikofaktor ist die familiäre Vorbelastung. Gibt es in der Familie bereits psychische Erkrankungen, dann ist es auch wahrscheinlicher, dass Kinder psychisch krank werden.

Was kann die Entstehung psychischer Erkrankungen noch begünstigen?
Bestimmte Lebensereignisse, Stress, eine Traumatisierung, Ausgrenzung oder Mobbing sind weitere Risikofaktoren für psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Auch der psychosoziale Standard spielt eine Rolle. Kinder aus schwierigeren Verhältnissen erkranken häufiger an Depressionen.

Die DAK Studie zeigt signifikante Unterschiede zwischen Stadt- und Landkindern. Demnach erkranken 25 Prozent mehr Kinder in der Stadt. Ist das nur der größeren Dichte an Fachärzten geschuldet, die eine Erkrankung besser feststellen können?
Das kann eine Erklärung sein, greift aber sicher zu kurz. In der Stadt zu leben ist ja nicht ohne Risiko. Meist haben die Menschen dort einen beengteren Wohnraum als auf dem Land. Das kann Stress verursachen. Zudem ist das Stresslevel durch Lärm und Verkehr ohnehin erhöht. Studien zeigen, dass die Menschen in den Städten schlechter schlafen. All das trägt sicher dazu bei. Aber die Lösung lautet nicht: Zieht alle aufs Land, dann sind Eure Kinder glücklich.

Welche Schlussfolgerungen müssen aus solchen Studien gezogen werden?
Zunächst müssen wir sicher noch weiter nach den Gründen für die gestiegenen Zahlen fragen und weiter forschen. Ich glaube außerdem, dass die Schule als System nicht darum herumkommt, sich mit diesem Thema intensiver zu befassen. Schließlich sind die Kinder dort immer häufiger in Vollzeit untergebracht. Man muss die Schulen daher besser ausstatten, mit speziell geschultem Personal. Das können Sozialarbeiter oder im Idealfall Schulpsychologen sein. Lehrer können das nicht auch noch übernehmen.

Interview: Jürgen Bröker/wsp

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