Die meisten jungen Menschen vermissen unbeschwertes Feiern im Kreis von Gleichaltrigen. Foto: pixabay
22.10.2020

Jugendliche in der Corona-Krise

Jugendliche stehen in der Corona-Krise in der Kritik. Ihnen wird vorgeworfen, trotz der Pandemie rücksichtslos zu feiern. Studien zeichnen aber ein anderes Bild.

Der Sozialisationsforscher Baris Ertugrul hält nichts von der stärker werdenden Kritik an Jugendlichen, sie seien rücksichtslos und wollten trotz der Pandemie wieder ausgelassen feiern. „Dieses Bild vom hedonistischen Hang der Jugend ist ein bewährter gesellschaftlicher Mythos, der so aber nicht zutrifft“, sagt Ertugrul, der unter anderem am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt der Universität Bielefeld arbeitet.

So hätten die ersten Studien zu Jugendlichen in der Corona-Krise, die zwischen März und Mai durchgeführt worden seien, gezeigt, dass es eine sehr hohe Zustimmung unter den jungen Menschen für die Verbote gegeben habe. Mit zunehmender Dauer der Pandemie schwinden nun Einsicht und Vorsicht allerdings. Doch das betreffe ja nicht nur die Jugend, sondern alle Altersgruppen, die nicht explizit zur Risikogruppe gehörten, so der Sozialwissenschaftler im Gespräch mit dem WESTFALENSPIEGEL weiter.

Herkunft spielt bei Umgang mit Krisen wesentliche Rolle

Jugendliche wollen mitreden, werden aber oft nicht gefragt. Ein wichtiges Anliegen, das in nahezu allen Studien genannt wird: Sie wollen sich mit Gleichaltrigen treffen und austauschen. Dieser sogenannte „Peer-Drang“ sei ganz typisch für die junge Generation, sagt Ertugrul. Zum Jungsein gehören außerdem Unbeschwertheit, Grenzen austesten, auch Partys – das meiste davon ist in Pandemiezeiten aber nicht möglich. Welche Auswirkungen die erlebten Einschränkungen und das verpasste Jahr auf die heranwachsende Generation haben werden, vermag die Wissenschaft derzeit noch nicht zu sagen.

Klar ist aber schon, dass die Herkunft der Jugendlichen für ihren Umgang mit der Krise eine große Rolle spielt. „Studien zeigen, dass junge Menschen aus der Mittel- und Oberschicht mit der aktuellen Krise gelassener umgehen“, sagt Ertugrul. Jugendliche, die dagegen aus schwierigen sozialen und ökonomischen Verhältnissen kommen und so in einer Art Dauerkrise leben, erfahren die Pandemie als große zusätzliche Belastung.

Aktive Auseinandersetzung

Der Bielefelder Wissenschaftler macht darauf aufmerksam, dass die Jugendlichen aktuell ohnehin in einer komplexen und krisengeprägten Welt aufwachsen. Neben der aktuellen Pandemie gebe es Wirtschaftskrisen, Flüchtlingskrisen oder auch die Klimakrise. „Das stellt für die jungen Menschen eine große Herausforderung dar. Jugendliche wollen die Gesellschaft verstehen, deshalb setzen sie sich auch intensiv mit diesen Themen auseinander. Dabei nehmen sie das nicht nur passiv hin, sondern werden auch aktiv und mitunter öffentlich, wie die Fridays for Future Bewegung zeigt“, so Ertugrul. So könnten Krisen auch durchaus positive Effekte haben: „Die Jugendlichen können in der Pandemie auch erkennen, wie gestaltbar Gesellschaft sein kann und wie menschengemacht die Welt ist.“

jüb, wsp

Baris Ertugrul. Foto: privat

Baris Ertugrul. Foto: privat

Baris Ertugrul ist auch wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentrums für Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter (ZPI) an der Universität Bielefeld. Dort wurde eine internationale Studie in Kooperation mit der Universität Hannover gestartet, die untersucht, wie Jugendliche in verschiedenen Ländern mit der Krise umgehen. Das Zentrum für Kindheits- und Jugendforschung an der Uni Bielefeld lädt im Wintersemester 2020/2021 zudem zu einer digitalen Ringvorlesung mit dem Titel „Kindheit und Jugend in Zeiten der Pandemie“ ein. Weitere Informationen zur Ringvorlesung finden Sie hier.

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