
„Aufbruch statt Abbruch“
Die Evangelische und die Katholische Kirche stehen vor der Herausforderung, neue Nutzungen für zahlreiche Gebäude zu entwickeln. Einige westfälische Gemeinden zeigen, wie Gotteshäuser sich weiterentwickeln können – mit ein paar räumlichen Veränderungen.
Ein Ort der Möglichkeiten soll die katholische Pfarrkirche St. Agnes nahe der Innenstadt von Hamm sein. Neben klassischen Gottesdiensten gibt es Konzerte, Installationen und weitere Angebote zur Begegnung oder zum Innehalten, so die meditative „Moonlight Mass“. Die benachbarte katholische Realschule und das Berufskolleg nutzen die Kirche ebenso für Gottesdienste und weitere schulische Veranstaltungen. Intensiviert wird all dies durch den Freiraum, den die Kirche bietet. 2012 wurden zunächst versuchsweise für ein Jahr die Kirchenbänke entfernt; die Resonanz war so gut, dass sie nicht wieder in die Kirche hineinkamen. Möglich war dies ohne größere Hürden, da lediglich das Kirchengebäude und nicht die Gegenstände im Inneren unter Denkmalschutz stehen.
Flexibel Bestuhlung bietet „Frei-Raum“
Die Gemeinde sitzt seitdem in der Agneskirche auf Stühlen in einer Art Ellipse um Altar und Ambo, ein Pult zur Verkündigung des Wort Gottes. In der Mitte des Kirchenraums ist Platz für Kunstinstallation, musikalische Darbietungen oder Gestaltungen, die einen Gedanken des Kirchenjahres besonders aufgreifen. „Durch die lose Bestuhlung wird die Kirche heute stärker als Frei-Raum wahrgenommen. Das Sitzen oder sich Versammeln konzentriert auf eine eigene Weise. Je nach der Zahl der Besucherinnen und Besucher gibt es mehr oder weniger Sitzgelegenheiten“, sagt Mönkebüscher. Der Priester möchte Gewohnheiten in Frage stellen. Erst Recht, wenn manche Tradition gar nicht so feststeht, wie vielleicht angenommen wird. „Jede Zeit hat ihr eigenes Verständnis von Kirchenbauten und Gottesdiensten. Die Bänke kamen erst durch die Reformation in die Kirchen“, bemerkt er. In den vergangenen Jahren hat sich noch mehr in der Kirche verändert: Wo früher der Chorraum der Pfarrkirche war, steht seit 2017 ein begehbares Becken, das eine Ganzkörpertaufe ermöglicht. Gleichzeitig bietet das Rondell Möglichkeiten für Zusammenkünfte oder auch für den Abschied von Verstorbenen.
In Westfalen haben sich weitere Kirchen auf den Weg gemacht, um andere Arten von Gemeinschaft und Veranstaltungen zu ermöglichen. Dazu zählt die Evangelische Kirchengemeinde Coesfeld, die im Herbst 2024 die Einweihung des „roten Kubus“ feierte. Der rot eingefasste Raum mit gläsernem Dach und Glastüren ist mitten im Kirchenschiff platziert. Darin befinden sich Sitzgelegenheiten und Abstellmöglichkeiten sowie eine WC-Anlage. Damit ist der Kubus sowohl für das Gemeindeleben als auch als Ort für Gottesdienste nutzbar. Die ungewöhnliche Raumlösung, entworfen von Architekt Tobias Klodwig, soll dazu beitragen den im Kern aus dem 17. Jahrhundert stammenden Kirchenbau als Mittelpunkt des Gemeindelebens zu erhalten. „Aufbruch statt Abbruch“ lautete das Motto des Umbaus.
„Große Symbolkraft“
Die Evangelische Kirche am Markt sei ein gelungenen Beispiel für den Umbau eines denkmalgeschützten Bauwerks, sagt Dr. Simone Meyder, Leiterin des Referats Praktische Denkmalpflege bei der LWL-Denkmalpflege, Landschafts- und Baukultur in Westfalen. „Die Kirche wird weiterhin für Gottesdienste und das Gemeindeleben genutzt. Der Kubus ist reversibel in die Architektur eingebunden und ermöglicht unter anderem den Blick auf das Kirchengewölbe“, beschreibt sie. Die Kunsthistorikerin betont die Bedeutung von Kirchen in Städten und Gemeinden: „Kirchen sind dort oft die ältesten erhaltenen Bauwerke und haben eine große Symbolkraft. Es sind Orte der Gemeinschaft sie bieten einen sozialen Raum ohne Konsumzwang.“ Ist eine Kirche denkmalgeschützt, muss dies bei der Entwicklung einer neuen Nutzung beachtet werden. „Es geht zunächst um die Frage, welche Teile des Bauwerks denkmalgeschützt sind, also beispielsweise das Gebäude samt der historischen Fenster oder auch das Innere samt Ausstattung. Die jeweils prägenden Bestandteile eines Kirchenbaus müssen bei einem Umbau erhalten und sichtbar bleiben – so wie es in Coesfeld geschehen ist“, so Meyder
„Multisakraler Raum“
Die katholische St.-Ludwig-Kirche in Ibbenbüren befindet sich mitten in einem Veränderungsprozess. Bekannt ist das Bauwerk durch einen großen pinken Punkt, den der Künstler Rupprecht Geiger 1971 – damals noch in einem Rotton – im Chorraum anbringen ließ. Die Gläubigen saßen auf dunklen Kirchenbänken. Im Laufe der Jahre blieben jedoch immer mehr der 400 Plätze leer, erzählt Pastor Martin Weber. Heute seien andere räumliche Möglichkeiten notwendig, um in dem Kirchenraum Gottesdienste zu feiern sowie Veranstaltungen zu ermöglichen. „Wir brauchen einen multisakralen Raum, der offen ist für verschiedene Formen von Spiritualität“, ist er überzeugt. Um dies zu ermöglichen, hat die Gemeinde für einen Testzeitraum die Bänke entfernt und ausgelagert. Stattdessen stehen nun Stühle in der Kirche. Anzahl und Position orientieren sich jeweils an der Veranstaltung und an der Zahl der Gläubigen. Ein mobiler Altar kann an unterschiedlichen Orten im Gebäude stehen. Weber beobachtet positive Auswirkungen auf das Gemeindeleben: „Wenn Menschen näher beieinander sitzen, dann kommen sie leichter ins Gespräch und es entsteht ein Gemeinschaftsgefühl.“

Die St.-Ludwig-Kirche in Ibbenbüren erprobt derzeit ein neues Raumkonzept – mit einer flexiblen Bestuhlung anstelle von Kirchenbänken. Foto: Weber
Viele Gemeindemitglieder begrüßen diese Veränderung, berichtet der Pastor. Dennoch sei eine dauerhafte Umgestaltung nicht einfach machbar. „Die St.-Ludwig-Kirche ist seit 2021 mitsamt ihrem Inventar denkmalgeschützt. Wir sind mit dem Fachamt beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe im Gespräch um auszuloten, was möglich ist. Ziel ist eine zeitgemäße Liturgie in diesem Raum“, sagt Weber. Eine weitere Hürde ist das Geld. So setzte die Gemeinde für den Testzeitraum lediglich auf provisorische und kostengünstige Lösungen: Stühle und Teppichfliesen wurden geliehen. Ein Zuschuss des Bistums Münster ermöglichte kleinere Ausgaben für die Umgestaltung. „Wir haben viele Ideen und Pläne für den Raum. Um diese nachhaltig umzusetzen, braucht es jedoch größere Investitionen. Dabei geht es nicht nur um die Anschaffung von Stühlen, sondern auch um die Raumakustik, die sich seit der Entfernung der Bänke verschlechtert hat“, erklärt der Pastor.
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Was in Ibbenbüren noch ein Experiment ist, ist in Hamm bereits Normalität. Die alten Kirchenbänke wünsche sich dort heute kaum ein Gläubiger zurück, sagt Pfarrer Mönkebüscher. „In Gottesdiensten sitzen die Menschen heute näher beieinander. Das ist eine ganz andere Atmosphäre als früher.“
Annette Kiehl, wsp