„Ohne Geschwafel“
Zum Internationalen Tag der Leichten Sprache: Ein Archivartikel aus dem WESTFALENSPIEGEL 04/2020 über die Kunst, einfach zu kommunizieren.
„Beim Zuschauen kann man über Gefühle nachdenken:
Wie finde ich eine Sache?
Finde ich die Sache gut?
Oder finde ich es schlecht?
Man kann diskutieren.
Oder man kann sich entspannen bei Kultur-Angeboten.
Zum Beispiel bei Konzerten.
Das ist jetzt in der Corona-Zeit besonders wichtig.“
Mit diesen Worten erklärt Kirsten Czerner-Nicolas in Leichter Sprache, warum Kultur wichtig ist. Das sieht zunächst einfach aus: Kurze Sätze, die ohne Fremdworte, Genitiv und Konjunktiv auskommen. Es gibt keine Redewendungen, keine Abkürzungen, keine Ironie. Außerdem ist die Schrift größer, es gibt viele Absätze, und lange Wörter werden mit einem Bindestrich getrennt.
Für Menschen mit Lernschwierigkeiten oder anderen kognitiven Einschränkungen, Demenzkranke oder auch für Einwanderer, die noch nicht sicher Deutsch lesen können, kann die Leichte Sprache ein Schlüssel für mehr Teilhabe sein. Sie ermöglicht es ihnen, sich selbstständig und aus erster Hand zu informieren.
Die Übersetzung aus der Standardsprache in die Leichte Sprache ist anspruchsvoll: Kirsten Czerner-Nicolas ist Diplom-Heilpädagogin. Sie hat viele Jahre mit Menschen mit Behinderung gearbeitet und sich in barrierefreier Kommunikation fortgebildet. In ihrem Büro für Leichte Sprache in Dortmund übersetzt sie Texte von Behörden, Gesundheitsinformationen oder auch Artikel aus dem Kulturbereich. An der Technischen Universität Dortmund unterrichtet sie Studierende in den Grundlagen der barrierefreien Kommunikation.
Unterstützung bei ihrer Arbeit erhält Czerner-Nicolas durch ihre Kolleginnen und Kollegen, ein Team aus mehreren Prüfern für Leichte Sprache, das sie „inklusives Backoffice“ nennt. Es sind Menschen, die selbst aufgrund einer Behinderung Schwierigkeiten haben, die sogenannte normale Sprache zu lesen und zu verstehen. Häufig werde dieses Handicap als geistige Behinderung bezeichnet, erzählt die Dortmunderin und betont: „Ich sehe dies als Hürde in der Umwelt, die die Menschen behindert.“
Berufliche Perspektive durch Leichte Sprache
Rund 150 Kilometer weiter östlich, am Rand von Bad Oeynhausen, sitzt Merle Naue an ihrem Schreibtisch im Büro für Leichte Sprache der Diakonischen Stiftung Wittekindshof. Die junge Frau bewegt sich in den frisch renovierten Räumen mit Hilfe eines Rollstuhls. Auf die Frage, welches Handicap sie habe, sagt sie geradeheraus: „Ich habe alles im Kopf und weiß, was ich möchte. Ich bin aber etwas langsamer als andere und benötige Unterstützung bei der Umsetzung.“ Naue kam 2014 nach ihrem Förderschulabschluss zum Wittekindshof. Sie wollte herausfinden, in welchen Berufen sie mit ihrer Lernbehinderung und ihrer körperlichen Einschränkung tätig sein könnte.
Die Leichte Sprache wurde schließlich zu einer beruflichen Perspektive für die junge Frau. Sie absolvierte eine Ausbildung als Prüfleserin. „Das ist ein umfangreiches Programm“, erzählt Annika Lange-Kniep. Die Sozialarbeiterin und Diakonin leitet das Büro für Leichte Sprache im Wittekindshof seit rund zwei Jahren. Dabei ist sie nicht nur für die Übersetzungen verantwortlich, sondern berät und schult Unternehmen, Einrichtungen und auch Mitarbeiter der Stiftung in Sachen inklusiver Kommunikation. In ihrem Training für Prüfleser geht es nicht nur um Regeln der Leichten Sprache. Im Mittelpunkt steht vielmehr das Ziel, das Selbstbewusstsein der Prüfer zu stärken. „Es ist wichtig, dass sie sich nicht scheuen, Kritik an unseren Textentwürfen zu äußern. Jede Rückmeldung ist wichtig“, sagt Lange-Kniep.
Merle Naue hat die Leichte Sprache nicht nur zu ihrem Beruf, sondern auch zu ihrem Anliegen gemacht. Während ihrer Tätigkeit als Prüferin für Leichte Sprache hat sie bereits begonnen, Texte zu schreiben. Sie machte Praktika und bildete sich fort, um die Leichte Sprache sicher zu beherrschen. „Die Regeln sind sehr komplex. Man muss auf viele Dinge achten, damit ein Text schließlich leicht verständlich ist“, sagt die Mindenerin.
Mittlerweile ist Naue in dem Büro auf dem Gründungsgelände des Wittekindshof als Übersetzerin tätig. Arbeitet sie an einem Text, dann geht es nicht nur darum, bestimmte Formulierungen zu vermeiden, Wörter zu ersetzen oder die Länge eines Satzes zu verkürzen. Naue liest sich in das Thema ein, recherchiert Informationen und entwickelt eine Struktur für ihren Entwurf. Dabei kann es um eine Spieleanleitung gehen oder auch um einen Infobrief in Leichter Sprache zum Thema Corona, der an die Bewohner und Mitarbeiter der Stiftung Wittekindshof geht. „Ich diskutiere meinen Entwurf im Kollegenkreis, lege diesen dann dem Auftraggeber vor und sende den Text schließlich in die Prüfgruppen. In manchen Fällen lautet deren Einschätzung dann auch: Das passt ja gar nicht. Und diese Rückmeldung ist gut so, denn ein Text muss für sich stehen und darf keiner weiteren Erklärung bedürfen“, sagt Naue.
Auf die Lebenswelt der Zielgruppe einlassen
In Leichter Sprache zu schreiben, bedeutet für die Übersetzerinnen und Übersetzer, sich auf die Lebenswelt ihrer Zielgruppen einzulassen. „Einige Begriffe sind für Menschen mit Lernbehinderung nicht ohne weiteres verständlich. Sie verbinden zum Beispiel das Wort Menü, das auf vielen Internetseiten zu lesen ist, mit einem Restaurantbesuch und nicht unbedingt mit der Menüführung einer Website. Der Online-Kanal YouTube ist hingegen aus dem Alltag vertraut. Einige Menschen können allerdings mit dem geschriebenen Wort nichts anfangen“, nennt Annika Lange-Kniep Beispiele.
An der Fachhochschule Münster engagiert sich Prof. Dr. Rüdiger Ostermann am Fachbereich Gesundheit dafür, dass die Leichte Sprache in Arztpraxen, Krankenhäusern oder auch Pflegeheimen vermehrt eingesetzt wird. Er bildet angehende Fachleute für den Gesundheitsbereich aus und sensibilisiert sie für die Bedeutung Leichter Sprache. „Für Pflegemanager ist die Kenntnis der Leichten Sprache eine Schlüsselqualifikation. Dabei geht es nicht nur um die Kommunikation mit Patienten. Auch bei der Ausbildung von Pflegehelfern mit einer Lernbehinderung können entsprechend aufbereitete Unterrichtsmaterialien helfen“, berichtet Ostermann. Hier sei ein größeres öffentliches Bewusstsein notwendig: „Im Grundgesetz heißt es, dass jeder Mensch ein Recht darauf hat, sich ungehindert zu informieren. Das bedeutet, dass Informationen so aufbereitet sein müssen, dass auch Menschen mit Einschränkungen sie verstehen können.“
Leichte Sprache ist ein Recht. Behörden, aber zum Beispiel auch Krankenkassen und Arbeitsagenturen sind dazu verpflichtet, entsprechend formulierte Informationen anzubieten. Immer mehr Museen und Kultureinrichtungen nutzen Leichte Sprache, um ein vielfältiges Publikum anzusprechen, so zum Beispiel aktuell in der inklusiven Fotoausstellung „Erzähl mir was vom Pferd“ im LWL-Freilichtmuseum Detmold (s. WESTFALENSPIEGEL 3/2020).
„Garantiert ohne Geschwafel“
Merle Naue engagiert sich über ihren Arbeitsplatz hinaus für die Leichte Sprache. Sie führt regelmäßig Gästegruppen durch ihre Heimatstadt Minden und erklärt die Sehenswürdigkeiten in kurzen und einfachen Sätzen. „Garantiert ohne Geschwafel“, sagt sie und erklärt: „Leichte Sprache holt Menschen in die Gesellschaft hinein. Es ist schön und wichtig, dass man für sich selbst lernen und verstehen kann.“
Dieser Artikel ist im WESTFALENSPIEGEL 04/2020 erschienen. Ihnen gefällt, was Sie hier lesen? Gerne senden wir Ihnen im Rahmen unseres Probeabos kostenlos zwei kommende Ausgaben zu. Hier geht’s zum Probeabo.
Die Leichte Sprache setzt sich langsam im öffentlichen Leben durch. Die UN-Behindertenrechtskonvention und die Verankerung der Leichten Sprache im Behindertengleichstellungsgesetz und im Sozialgesetzbuch waren auf diesem Weg wichtige Meilensteine. Zuletzt verdeutlichten Ereignisse wie die Corona-Pandemie, wie wichtig es ist, verständliche Informationen für Menschen mit Handicap zur Verfügung zu stellen.
Kirsten Czerner-Nicolas beobachtet, dass Leichte Sprache von Kommunen, Ämtern und Einrichtungen immer häufiger nicht mehr nur als Pflichtaufgabe verstanden wird. „Es gibt einen großen Willen, hier aktiv zu werden. Barrierefreie Kommunikation gehört zunehmend auch in der Selbstdarstellung zum guten Ton dazu“, beobachtet die Übersetzerin und fügt hinzu: „Allerdings sollten die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen mit Behinderung noch stärker einbezogen werden.“
Dolmetschen in Leichte Sprache
Seit einigen Jahren ist die Dortmunderin auch bei Veranstaltungen aktiv. Sie ist eine der wenigen Simultandolmetscherinnen für diesen Bereich. Bei Festivals und Kongressen übersetzt sie Vorträge und Moderationen live in Leichte Sprache. Das Publikum hört ihre Stimme dann begleitend zum Geschehen auf der Bühne über einen Kopfhörer. „Es geht darum, dass Menschen mit kognitiven Einschränkungen bei inklusiven Veranstaltungen nicht nur dabei sind, sondern wirklich teilnehmen können“, sagt Czerner-Nicolas. Und das gilt auch in außergewöhnlichen Situationen. Als bei einem Kongress ein sehbehindertes Moderatorenpaar auf der Bühne Witze über ein „Blind Date“ machte, da musste die Dolmetscherin nach Worten ringen. Sie erklärte schließlich die Sache mit der Verabredung von Unbekannten und den blinden Akteuren und sagte auch, dass das ein Witz sei. Schließlich, so ist Czerner-Nicolas überzeugt, haben alle Menschen nicht nur ein Recht darauf mitzureden, sondern auch mitzulachen.
Annette Kiehl, wsp