04.08.2020

„Ein Meilenstein für die Inklusion“

Erst seit 2019 gilt das Wahlrecht für alle. Claudia Middendorf, Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung, spricht im Interview mit westfalenspiegel.de über das Ende der Wahlrechtsausschlüsse.

 

Frau Middendorf, dürfen bei der Kommunalwahl alle Menschen wählen?
Bei der Kommunalwahl am 13. September gilt das Wahlrecht für alle Menschen ab 16 Jahren.

Warum war das nicht immer so?
Das Bundesverfassungsgericht hat im Februar 2019 entschieden, dass Ausschlüsse von der Wahl verfassungswidrig sind. Damit wurde der Weg frei gemacht für ein inklusives Wahlrecht und der Bundestag hat einige Wochen später die Streichung der Wahlrechtsausschlüsse beschlossen. Bis zu diesem Zeitpunkt durften Menschen, die aufgrund einer Behinderung unter Vollbetreuung stehen, nicht zur Wahl gehen. Etwa 85.000 Menschen in Deutschland waren davon betroffen und konnten ihr Grundrecht nicht ausüben.

Claudia Middendorf. Foto: Feldmann

Claudia Middendorf. Foto: Feldmann

Im NRW durften Menschen mit Behinderung bereits 2017 an der Wahl teilnehmen.
Ja, Nordrhein-Westfalen war bei diesem Thema ein Vorreiter in Deutschland. Hier gab es im Landtag über die Fraktionsgrenzen hinweg das Votum, dass bei Landtags- und Kommunalwahlen alle Menschen, ob mit oder ohne Behinderung, wählen dürfen. Das war ein wichtiges Signal.

Sie engagieren sich für das Wahlrecht für alle. Wie kam es dazu?
Das hat sicherlich mit meiner Biografie zu tun. Ich habe einige Jahre eine Werkstatt für psychisch erkrankte Menschen geleitet. Viele von ihnen standen unter Betreuung und durften daher nicht wählen. Dennoch gab es ein großes Interesse an Politik. Es wurde diskutiert und einige der Mitarbeiter haben sich trotz ihrer Einschränkungen politisch engagiert, zum Beispiel in Inklusionsbeiräten. Es war damals schon mein Anliegen, die Menschen in eine politische Auseinandersetzung zu bringen und Teilhabe zu ermöglichen. Daher ist es mir wichtig, dass alle Menschen, egal mit welchen Einschränkungen, mitbestimmen können.

Wie war die Resonanz bei diesen Erstwählern?
Ich habe persönlich in meinem Umfeld erfahren, dass viele Menschen mit psychischen Behinderungen an der Wahl teilgenommen haben. Gleiche Rechte zu haben, und diese ausüben zu können – das war für viele ein wichtiges Signal und hat ihr Selbstbewusstsein enorm gestärkt. Das Wahlrecht wurde sehr ernst genommen und von vielen Menschen mit Behinderung ausgeübt.

Welche Voraussetzungen müssen bei der Kommunalwahl geschaffen werden, um allen Menschen die Teilnahme zu ermöglichen?
Als Beauftragte der Landesregierung für Menschen mit Behinderungen informiere ich die Kommunen rund um dieses Anliegen, und gebe eine Broschüre zum Thema heraus. Dabei geht es zum Beispiel darum, wie ein Wahllokal gestaltet sein muss, um barrierefrei zu sein. Dabei spielen nicht nur die Bedürfnisse von gehbehinderten Menschen eine Rolle. Vielmehr müssen wir auch Menschen mit Lernbehinderungen, einer psychischen Erkrankung oder auch mit Einschränkungen der Sinnesorgane bei der Wahl die notwendige Unterstützung geben. Das kann zum Beispiel mit Hilfe einer Wahlschablone geschehen, die sehbehinderten Menschen bei der Wahl hilft.

Einige Menschen mit Handicap benötigen eine Assistenz, um im Wahllokal ihre Kreuz zu setzen.
Das ist in einigen Fällen so und darauf stellen wir uns ein. In den Wahllokalen muss aber klar sein, dass der Ansprechpartner für den Wahlvorstand nicht die Assistenz ist, sondern der Wahlberechtigte. Das ist ein wichtiger Unterschied und ein Signal in Sachen Selbstbestimmung.

Inwiefern spielen Anliegen von Menschen mit Behinderung bereits im Wahlkampf eine Rolle?
Bei diesem Thema müssen immer wieder die sprichwörtlichen dicken Bretter gebohrt werden. Es dauert in manchen Fällen lange, bis ein entsprechendes Bewusstsein entsteht und die Anliegen von Menschen mit Behinderungen Gehör finden. Nicht zuletzt durch das Engagement von Behindertenbeiräten und Inklusionsbeauftragen wird diese Perspektive aber zunehmend stärker berücksichtigt. Ein gutes Beispiel dafür ist die Barrierefreiheit in Bus und Bahn. Hier ist es heute selbstverständlich, Bedürfnisse von Rollstuhlfahrern oder auch sehbehinderten Menschen zu berücksichtigen. Auch aktuell, beim Thema Corona, wurden die Bedürfnisse von Menschen mit Einschränkungen stärker mitgedacht, als es in vielen Situationen früher der Fall war. Es gibt zu diesem Thema zahlreiche Gesundheitsinformationen in Leichter Sprache. Das ist ein Erfolg.

Interview: Annette Kiehl, wsp

Mehr zum Thema „Inklusives Wahlrecht“ lesen Sie im WESTFALENSPIEGEL Heft 4/2020. Die Inhaltsübersicht der Ausgabe finden Sie hier.
Eine Broschüre der Landeszentrale für politische Bildung NRW zur Kommunalwahl in leichter Sprache finden Sie hier.

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